Unheimliche Nachbarn

Atomkraft Deutschland fürchtet den Betrieb der Pannenreaktoren in Belgien. Aber was kann die Politik dagegen tun?
Ausgabe 01/2016
Unheimliches Symbol: das Atomium in Brüssel
Unheimliches Symbol: das Atomium in Brüssel

Foto: Nicolas Maeterlinck/AFP/Getty Images

Den Super-GAU von Tschernobyl entdeckten zuerst die Schweden. Am Atomkraftwerk Forsmark wurden erhöhte Strahlenwerte gemessen, der Kraftwerksleiter löste Alarm aus, dann stellte sich heraus: Die Gefahr kommt gar nicht aus der Anlage in Forsmark, sondern aus der Sowjetunion, die den Unfall aber verschweigt und erst Tage später öffentlich einräumt.

Radioaktivität macht nicht an Landesgrenzen Halt – die Kontrolle der Atomanlagen aber schon. Nationale Aufsichtsbehörden überwachen den Betrieb, andere Staaten können kaum etwas gegen unsichere Reaktoren tun. Tschernobyl ist nun fast 30 Jahre her, aber das Problem der rein nationalen Verantwortung besteht noch immer. Momentan sind es allerdings nicht die unsicheren Reaktoren aus dem Osten, die der deutschen Bevölkerung Angst einjagen, sondern die Pannenreaktoren aus dem Westen.

Aufregung in Nordrhein-Westfalen

In Belgien geht es drunter und drüber. Die Atomkraftwerke Doel und Tihange werden derzeit fast wöchentlich an- und ausgeschaltet. Unter anderem wegen mehrerer feiner Risse an den Reaktorbehältern standen die Anlagen monatelang still, wurden im Dezember aber trotz massiver Sicherheitsbedenken wieder angefahren. Der Block Doel 3 musste nach vier Tagen bereits wieder vom Netz, wegen eines Lecks an einer Schweißnaht. Doel 1 lieferte drei Tage lang Strom, wurde dann am vergangenen Wochenende wegen eines Problems mit einer Turbine wieder abgeschaltet. Nun läuft der Block erneut. Und im AKW Tihange brannte es am 18. Dezember, eine Woche später lieferte der betroffene Reaktor schon wieder Strom. Mit dem Betrieb lassen sich Millionen verdienen – kein Wunder, dass sich der Betreiber Electrabel keinen Tag entgehen lassen will.

Das Atomkraftwerk Tihange liegt nur 70 Kilometer westlich von Aachen, bei einem schweren Unfall könnte die Stadt mit ihren 240.000 Einwohnern auf Dauer unbewohnbar werden. In Nordrhein-Westfalen ist daher die Aufregung groß. SPD-Energieminister Garrelt Duin sagt: „Diese Kraftwerke genügen nicht im Geringsten unseren Sicherheitsanforderungen.“ Der grüne Umweltminister Johannes Remmel spricht von „Bröckelreaktoren“ und verlangt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, sie solle „jetzt Abschalt-Gespräche mit Belgien aufnehmen“. Und selbst die oppositionelle CDU findet deutliche Worte zum AKW Tihange. Der Landesvorsitzende Armin Laschet twitterte: „Skandalreaktor muss sofort vom Netz! Was hilft deutscher Atomausstieg, wenn Unsicherheitsreaktoren direkt hinter der Grenze stehen?“

Das Problem hat nicht nur Nordrhein-Westfalen. Auch Rheinland-Pfalz wäre von einem Unfall in Tihange stark betroffen, die rot-grüne Landesregierung fordert ebenfalls das Abschalten. Die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg plagt sich mit den Atomkraftwerken im französischen Fessenheim und im schweizerischen Beznau herum. Sie sind noch näher an der deutschen Grenze als die belgischen Reaktoren – und zum Teil noch älter. Zum Vergleich: Das deutsche AKW Grafenrheinfeld wurde im vergangenen Jahr nach 33 Jahren vom Netz genommen. Fessenheim steht direkt am Rhein und ist mit 38 Jahren das dienstälteste Atomkraftwerk Frankreichs. Doel und Tihange sind schon über 40 Jahre alt und sollen noch zehn Jahre weiterlaufen. Beznau, keine zehn Kilometer von Deutschland entfernt, hat vor 46 Jahren den Betrieb aufgenommen und ist damit jetzt das älteste Atomkraftwerk der Welt.

Druck und Diplomatie

Doch die deutsche Politik kann nur wenig tun gegen den Betrieb der ausländischen Uralt-Reaktoren. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sagt: „Es liegt nicht in der Gewalt der Bundesregierung, Atomkraftwerke in anderen Ländern abschalten zu lassen. So wie Deutschland sich nicht vorschreiben lässt, Atomkraftwerke zu betreiben, so können wir anderen nicht vorschreiben, wie sie ihren Energiebedarf decken. Das liegt in der souveränen Entscheidung jedes Landes.“ Rechtlich mag das korrekt sein, politisch zeugt diese Aussage jedoch von Mutlosigkeit. Es geht doch überhaupt nicht darum, anderen Ländern die Energiepolitik im Detail vorzuschreiben. Aber wenn Hunderttausende Bundesbürger gefährdet sind, lohnt es sich doch, darüber nachzudenken, ob es in Zukunft international verbindliche Regeln für den AKW-Betrieb und das Abschalten geben sollte. Hendricks aber vergleicht das mit einem Zwang zur Atomkraftnutzung.

Im aktuellen Fall setzt die Ministerin auf Druck und Diplomatie: „Wir nutzen selbstverständlich alle Kanäle, die uns zur Verfügung stehen, um der belgischen Regierung unsere atomkritische Haltung zu vermitteln und unsere Besorgnis über den fortgesetzten Betrieb der AKW in Tihange und Doel zum Ausdruck zu bringen.“

Gespräche, Gespräche, Gespräche

Hendricks hat ein Gespräch im Januar angekündigt. Dabei handelt es sich jedoch offenbar bloß um ein internationales Arbeitstreffen am Montag und Dienstag kommender Woche, zu dem die belgische Atomaufsicht mehrere Experten eingeladen hat. Hätte Hendricks ein eigenes Treffen vereinbart, zu dem sie auch persönlich käme, hätte das sicherlich eine stärkere Signalwirkung. Immerhin: Die Ergebnisse des Arbeitstreffens unter Experten sollen „als Vorbereitung politischer bilateraler Gespräche dienen, die das Bundesumweltministerium mit Belgien führen will“, wie ein Ministeriumssprecher erklärt. Für diese Gespräche nannte er keine Termine. Der linke Bundestagsabgeordnete Hubertus Zdebel kritisiert, die Gespräche hätten schon viel früher stattfinden müssen, denn schon länger sei klar gewesen, dass die Reaktoren im Dezember wieder ans Netz gehen.

Das Umweltministerium lässt zudem derzeit Unterlagen der belgischen Atomaufsicht auswerten. Zdebel will, „dass die Ergebnisse dieser Auswertung umgehend veröffentlicht werden“. Doch das ist offenbar nicht vorgesehen. Das Ministerium will sie „in die Erörterung mit der belgischen Aufsichtsbehörde einbringen“.

Zdebel fordert noch mehr. „Die Bundesregierung muss endlich auch mit Belgien ein bilaterales Abkommen zur Zusammenarbeit in Fragen der Nuklearsicherheit und des Strahlenschutzes abschließen, um Informationsdefiziten entgegenzuwirken.“ Solche Abkommen gibt es schon mit vielen anderen Ländern, etwa mit Frankreich, der Schweiz, den Niederlanden oder Tschechien. Die belgische Regierung hat aber bisher wenig Interesse gezeigt und das Bundesumweltministerium verweist auf die enge Zusammenarbeit in europäischen und internationalen Gremien.

Eine originelle Forderung kommt von Anti-Atom-Initiativen aus Nordrhein-Westfalen: Das Bundesumweltministerium solle der Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen verbieten, die belgischen Atomkraftwerke mit Brennstoff zu beliefern. Das wäre ein deutliches Protestzeichen. Das Problem: Die Bundesregierung kann die Genehmigungen nicht einfach so zurückziehen, sondern müsste nachweisen, dass gesetzliche Bestimmungen verletzt werden – oder die Gesetze ändern. Ein Rechtsstreit wäre absehbar. Dauerhaft ist der Exportstopp ohnehin keine erfolgversprechende Strategie: Die AKW können aus anderen Ländern versorgt werden, zudem müsste Deutschland bei einem konsequenten Atomausstieg auch die Brennelementefabrik dichtmachen.

Nur vage Bestimmungen im EU-Recht

Gibt es für die Bundesregierung wirklich gar keine Möglichkeit, gewisse Sicherheitsanforderungen und im Zweifel das Abschalten ausländischer Reaktoren durchzusetzen – etwa über die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO)? „Nukleare Sicherheit ist eine nationale Aufgabe“, erläutert ein Sprecher auf Anfrage. „Die IAEO hilft den Mitgliedsstaaten, ihrer nationalen Verantwortung nachzukommen.“ Sie entwickelt etwa Richtlinien, berät die nationalen Aufsichtsbehörden oder begutachtet bestimmte Anlagen – aber nur „auf Anfrage“ des jeweiligen Landes. Von einer Organisation, deren Ziel die Förderung der zivilen Atomkraftnutzung ist, sollte man sich eben nicht zu viel versprechen.

Auf europäischer Ebene sieht es kaum besser aus. Der nordrhein-westfälische Umweltminister Remmel fordert zwar, die EU-Kommission solle sich „in Fragen der Sicherheit der belgischen Atomkraftwerke stärker einmischen, etwa so, wie sie auch beim Erneuerbare-Energien-Gesetz Vorgaben macht“. Doch das dürfte schwierig werden. Prinzipiell kann die Kommission aufgrund einer Beschwerde oder auch auf Eigeninitiative gegen Staaten vorgehen, wenn sich diese nicht an EU-Recht halten, wie eine Sprecherin erläutert. Im Fall der belgischen Atomkraftwerke sei jedoch keine formelle Beschwerde eines Mitgliedsstaats eingegangen.

Das dürfte wohl auch daran liegen, dass es im EU-Recht nur sehr vage Bestimmungen zur nuklearen Sicherheit gibt. Im Sommer 2014 wurde in einer Richtlinie ein EU-weites Sicherheitsziel definiert, aber in so allgemeinen Worten, dass sich das am einzelnen AKW praktisch nicht überprüfen lässt. Zumal es noch eingeschränkt wird: Das Ziel gilt nur für „vernünftigerweise durchführbare Sicherheitsverbesserungen“.

Selbst die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg, die gerne gegen ausländische Reaktoren vorgehen würde, sieht jetzt für Deutschland keine Chance: „Es gibt keine hinreichend konkreten, EU-weit gültigen Sicherheitsanforderungen, auf deren Basis die Abschaltung eines AKW durchgesetzt werden könnte“, sagt ein Sprecher des Umweltministeriums.

Auch wenn neue Atomkraftwerke gebaut werden sollen, dürfen die Nachbarländer nicht mitentscheiden. Zwar gibt es eine grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung, in diesem Rahmen werden auch staatliche Stellen und Bürger der Nachbarländer beteiligt. Die Einwände und Stellungnahmen müssen allerdings lediglich berücksichtigt werden, am Ende entscheidet die zuständige nationale Genehmigungsbehörde alleine.

Frustrierte Bundesländer

Derzeit sind es vor allem die Uralt-Reaktoren in Belgien, Frankreich und der Schweiz, die für Streit sorgen. Die Landesregierungen von Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sind frustriert und fordern eine rechtliche Handhabe. „Die rein nationale Verantwortung für das Sicherheitsniveau der Atomkraftwerke ist äußerst unbefriedigend“, beschwert man sich in Düsseldorf. Aus Mainz heißt es: „Unbestritten sind mehr Möglichkeiten zur grenzüberschreitenden Mitbestimmung bei der Nutzung der Atomenergie absolut erstrebenswert.“ Und in Stuttgart erklärt man, es müsse „Ziel sein, dass der Bevölkerung in Deutschland ein gleicher Schutz gewährt wird, unabhängig davon, ob das AKW diesseits oder jenseits der Grenze steht“.

Dass internationale Vorgaben fehlen, dürfte daran liegen, dass die Staaten schon ein Eigeninteresse an hoher Sicherheit haben. Von einem Unfall sind vor allem sie selbst betroffen – anders als etwa beim Klimawandel, der alle Staaten betrifft. Zu Problemen führt diese Regellosigkeit im Atombereich erst dann, wenn es unterschiedliche Einschätzungen zu den Fragen gibt, welches Risiko akzeptabel ist und wann ein Reaktor abgeschaltet werden muss.

Das führt auch zu einem Demokratieproblem: Die deutsche Bevölkerung kann durch Wahlen nur die deutsche Politik unter Druck setzen. Dass mehr als 200.000 Menschen online gegen den Betrieb der belgischen Atomkraftwerke unterschrieben haben, kann die dortige Regierung getrost ignorieren – die meisten Unterschriften dürften aus Deutschland kommen und die Bundesbürger können die belgische Regierung nicht abwählen.

Träume von einem neuen Vertrag

Das Problem lässt sich nur lösen, wenn die Atompolitik auf europäischer oder internationaler Ebene bestimmt wird. Aber wie kommen wir dahin? Der Linken-Politiker Zdebel fordert die Bundesregierung auf, zuerst aus der Europäischen Atomgemeinschaft Euratom auszutreten. Darüber finanziert Deutschland immer noch mit Millionenbeträgen die Forschung und Entwicklung von Atomkraft. Wenn die Bundesrepublik kündigte, so glaubt Zdebel, würden die Staaten einen neuen Vertrag zur Atompolitik aushandeln. Dann bestehe auch die Chance, dass das Prinzip der nationalen Verantwortung durchbrochen wird. „Wir brauchen gemeinsame europäische Spielregeln.“

Das Bundesumweltministerium kann sich momentan zu keiner klaren Position durchringen. Ein Sprecher erklärt auf Anfrage, das Ministerium trete ein „für verbindliche Sicherheitsziele innerhalb der Europäischen Union", andererseits solle die „nationale Verantwortung für die nukleare Sicherheit“ fortbestehen.

Vielleicht haben die Pannen in Belgien ja am Ende doch noch etwas Gutes – wenn sie den Druck auf die Politik erhöhen und dazu beitragen, dass die Atompolitik künftig keine nationale Sache mehr ist, sondern auf europäischer oder internationaler Ebene entschieden wird.

Dieser Text wurde für die Online-Ausgabe ergänzt

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