„Wir brauchen keinen Geheimdienst“

Interview Für die Aufklärung der NSU-Morde ist alleine die Polizei zuständig, sagt der Geheimdienst-Experte Till Müller-Heidelberg. Der Verfassungsschutz müsse aufgelöst werden
Ausgabe 45/2014
Ist sein Arbeitsplatz in Gefahr? Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesverfassungsschutzes
Ist sein Arbeitsplatz in Gefahr? Hans-Georg Maaßen, Präsident des Bundesverfassungsschutzes

Foto: Reiner Zensen / Imago

Vor drei Jahren ist der NSU, der Nationalsozialistische Untergrund, aufgeflogen. Danach kam heraus, dass die Geheimdienste von Bund und Ländern wichtige Informationen nicht weitergegeben und Ermittlungen der Polizei behindert haben. Till Müller-Heidelberg beschäftigt sich seit Jahren kritisch mit Geheimdiensten.

der Freitag: Herr Müller-Heidelberg, hätten Sie das für möglich gehalten, dass der Verfassungsschutz bei einer solchen Mordserie einfach wegguckt?

Till Müller-Heidelberg: Das ist für mich leider absolut nichts Überraschendes. Schauen Sie nur in die Vergangenheit, wie da Ermittlungen behindert wurden. Als 1974 in Westberlin der V-Mann Ulrich Schmücker erschossen wurde, hat der Verfassungsschutz die Mordwaffe in seinem Tresor verschwinden lassen. Der niedersächsische Verfassungsschutz hat im Jahr 1978 ein Loch in das Celler Gefängnis gebombt und brav den Generalbundesanwalt ermitteln lassen, der glaubte, da seien die bösen RAF-Terroristen am Werk gewesen. Es gibt noch weitere Fälle, die sind alle öffentlich dokumentiert.

Zur Person

Till Müller-Heidelberg, 70, ist Rechtsanwalt und Experte für Geheimdienste in der Humanistischen Union. Er war jahrelang Bundesvorsitzender und hat das Memorandum „Brauchen wir den Verfassungsschutz? Nein!“ mitverfasst , das auf humanistische-union.de bestellt oder heruntergeladen werden kann

Seit dem Auffliegen der rechten Terrorgruppe NSU wird viel über die Geheimdienste diskutiert, in vier Bundesländern gibt es Untersuchungsausschüsse. Trotzdem hat sich bei den Verfassungsschutzämtern wenig geändert. Wie kann das sein?

Das ist mir selbst ein Rätsel. Die Untersuchungsausschüsse haben festgestellt, dass der Verfassungsschutz völlig versagt hat, und trotzdem gibt es keine Konsequenzen – außer dem Informationsverbund zwischen Verfassungsschutz und Polizei. Der ist jedoch verfassungswidrig und abzulehnen.

Warum zieht niemand die richtigen Konsequenzen?

Weil die Innenpolitiker nicht einsehen wollen, dass der Verfassungsschutz schlicht überflüssig ist und abgeschafft werden sollte. Dann kann er auch nicht mehr die Polizeiarbeit erschweren oder behindern.

Brauchen wir einfach einen besseren Verfassungsschutz?

Nein, er kann nie vernünftig arbeiten, weil er als Geheimdienst keine sinnvolle Aufgabe hat und nicht kontrollierbar ist.

Es gibt doch das Parlamentarische Kontrollgremium.

Gucken Sie sich an, wer da drin sitzt. Häufig sind das die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, die ohnehin genug zu tun haben. Die treffen sich dann ab und zu, allerdings ganz geheim. Und der Verfassungsschutz erzählt ihnen nur das, was er ihnen erzählen will. Das ist keine echte Kontrolle.

Zeigt nicht gerade die Mordserie des NSU, dass wir einen – besseren – Verfassungsschutz brauchen?

Nein, die Mordserie des NSU ist schlicht eine Mordserie. Da haben Polizei und Staatsanwaltschaft zu ermitteln, das ist gar keine Geheimdienstaufgabe. Aus den Untersuchungsausschüssen wissen wir, dass der Verfassungsschutz die NSU-Leute sogar geschützt hat ...

... was er gar nicht durfte.

Aber er hat es getan und tut es immer wieder. Die Geschichte des Verfassungsschutzes besteht ausnahmslos aus solchen Katastrophen. Gesetzeswidrige Übergriffe sind bei einem Geheimdienst unvermeidbar. Jede Machtanballung, die nicht kontrolliert wird, muss über die Stränge schlagen. Und ein Geheimdienst kann nicht sinnvoll kontrolliert werden.

Wenn man den Verfassungsschutz abschafft, würden dann alle Aufgaben von der Polizei übernommen?

Für die Strafverfolgung ist schon immer die Polizei zuständig.

Und was ist mit der Wächterfunktion? Der Verfassungsschutz versucht zu erkennen, wo Bewegungen entstehen, die zum Beispiel die Demokratie abschaffen wollen.

Das ist eine völlig überflüssige Aufgabe, die auch gar nicht erfüllt werden kann. Der Geheimdienst hat keine Erkenntnisse, die über das hinausgehen, was man in den öffentlichen Forschungsberichten verschiedener Institutionen lesen kann. Diese sogenannte Vorfeldaufklärung ist schlicht ein Mythos.

Aber der Geheimdienst wirbtV-Leute in den Gruppen an und bekommt dadurch interne Informationen.

Die V-Leute wollen den Verfassungsschutz vorführen. Die lassen sich bezahlen und finanzieren damit anschließend ihre eigene Organisation. Das sind Überzeugungstäter, die geben nur irrelevante oder falsche Informationen weiter.

Linke Gruppen kritisieren oft, dass in ihrer Szene auch V-Leute angeworben werden. Eigentlich dürften die sich also gar nicht beschweren, sondern müssten sich freuen, dass sie Geld bekommen?

(lacht) So kann man das womöglich sagen.

V-Leute können mit den Zielen ihrer Gruppe übereinstimmen, aber trotzdem zum Beispiel Straftaten nicht richtig finden und dann die Informationen weitergeben.

Im Einzelfall ist das sicherlich nicht auszuschließen. Aber die Erfahrung zeigt, dass der Verfassungsschutz noch nie eine Straftat verhindert hat.

Woher wollen Sie das wissen?

Weil das der Verfassungsschutz zwar behaupten, aber nicht belegen kann. Er sagt dann: Das können wir nicht offenlegen, weil wir geheim sind. Das ist eine seltsame Argumentation: Wir sind erfolgreich, aber beweisen können wir es nicht. Da sollte man umgekehrt fragen: Wie kommt ihr dazu, das zu behaupten?

Neben den V-Leuten setzt der Geheimdienst auch eigene Spitzel ein. Die bekommen Informationen, die der Öffentlichkeit unbekannt sind, oder?

Das sind aber Informationen, die irrelevant sind. In unserem freiheitlichen Rechtsstaat darf jeder alles denken – ohne dass es den Staat etwas angeht. Und sobald jemand an die Öffentlichkeit geht, um dort etwas zu bewirken, brauche ich keinen Geheimdienst mehr, denn dann sind es ja öffentliche Informationen.

Teile der Grünen wollen den Verfassungsschutz ersetzen durch eine Art Aufklärungszentrale, die öffentlich zugängliche Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen zusammenträgt.

Das wäre ein richtiger Schritt. Man könnte ein wissenschaftliches Institut einrichten, welches die gesellschaftlichen Entwicklungen beobachtet, analysiert und informiert. Aber eigentlich brauchen wir das nicht. An fast allen Universitäten gibt es Lehrstühle für Soziologie, die Wissenschaftler forschen und die informieren die Öffentlichkeit.

Wenn nun die anderen Tätigkeiten des Geheimdienstes auf die Polizei übertragen werden, hat man dann nicht das Problem, dass Polizei und Geheimdienst verschmelzen, was man nach 1945 verhindern wollte?

Es geht nicht darum, Aufgaben zu übertragen. Für Straftaten und Gewalt ist heute schon die Polizei zuständig. Alle anderen Aufgaben sind schlicht überflüssig.

Dann hätte in der NSU-Affäre aber gar nicht der Verfassungsschutz versagt, sondern die Polizei.

Vor allem hat die Polizei versagt, das ist richtig. Aber wenn es den Verfassungsschutz schon gibt und er wichtige Informationen nicht weitergibt oder gar vertuscht, dann hat er auch versagt.

Wenn es den Verfassungsschutz nicht mehr gibt, sollte dann die Polizei vorbeugend aktiv sein, um Verbrechen zu verhindern?

Sie handelt bereits jetzt präventiv und sollte dies auch weiterhin tun – allerdings nur, wenn es eine konkrete Gefahr gibt, nicht wenn ich allgemeine Verdachtsgründe habe, es könnte etwas passieren. Denn das ist eine totale Entgrenzung der Polizeiarbeit. Natürlich kann immer überall irgendwas passieren.

Wodurch unterscheidet sich überhaupt die Arbeit von Polizei und Geheimdiensten?

Polizeiliche Methoden sind in der Regel öffentlich. In einem normalen Ermittlungsverfahren gibt es nichts Geheimes. Die Polizei hat zudem hoheitliche Eingriffsbefugnisse, gegebenenfalls mit Richtervorbehalt, denken Sie an Wohnungsdurchsuchungen und Festnahmen. Das darf der Geheimdienst nicht.

Telefone dürfen sowohl von Polizei als auch vom Geheimdienst abgehört werden?

Ja, aber die Polizei kann das nur mit Zustimmung eines Richters, der Verfassungsschutz darf das auch ohne.

Da arbeitet die Polizei im Geheimen. Auch sonst erfährt ein Verdächtiger nicht immer den aktuellen Stand der Ermittlungen. Was ist daran öffentlich?

In der Regel wird er relativ schnell informiert, dass gegen ihn ermittelt wird. Und nach der Strafprozessordnung hat er über seinen Verteidiger das Recht auf Akteneinsicht. Richtig ist allerdings, dass er die Akten in der Regel erst später bekommt. Er kann alles, was die Polizei gemacht hat, gerichtlich überprüfen lassen. Beim Geheimdienst hingegen erfahren Sie nicht, ob Sie überwacht werden, und können sich daher nicht dagegen wehren.

Sie sagen: Auch wenn die Polizei ermittelt, das Abhören von Wohnungen sollte tabu sein. Können dadurch nicht Straftaten verhindert werden?

Dabei wird vergessen, dass der Lauschangriff nicht gegen einen Verbrecher eingesetzt wird, sondern gegen einen Verdächtigen. Sie glauben gar nicht, wie schnell Sie verdächtig werden.

Aber wenn es Anhaltspunkte gibt, dass Terroristen in einer Wohnung einen Anschlag planen?

Im Gesetz werden zwar Anhaltspunkte gefordert. Aber in der Realität zeigt sich, dass das meist völlig vage ist. Wenn die Polizei irgendwo reingucken will, dann erfindet sie eben irgendwelche Anhaltspunkte. Ein konkretes Beispiel aus Mainz: In der Zeitung stand, es gebe ein Gerücht, dass Frau Sowieso Ausländer einschleuse. Daraufhin wurde ihr Telefon neun Monate lang überwacht.

Die Polizei darf als Konsequenz aus den NSU-Morden mehr Informationen mit den Geheimdiensten austauschen.

Das ist nach meiner Auffassung verfassungswidrig. Wenn ich sehe, wie viel die austauschen, dann hat der Verfassungsschutz mittelbar exekutive Befugnisse, weil er die Erkenntnisse der Polizei aus exekutivem Handeln bekommt, und die Polizei hat Geheimdienst-Befugnisse, weil sie die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes erhält, die sie sich selbst nicht beschaffen dürfte. Damit wurde die Trennung zwischen Geheimdienst und Polizei aufgehoben.

Wenn die Landespolizeien stärker zusammenarbeiten, wäre dagegen nichts einzuwenden?

Das ist richtig. Ich begrüße auch den Vorschlag, dass der Generalbundesanwalt die Ermittlungen übernehmen kann, um die Erkenntnisse zusammenzuführen.

Was muss sich aus Ihrer Sicht bei den Geheimdiensten tun, solange sie noch nicht abgeschafft sind?

Das Parlament sollte zwei Geheimdienstbeauftragte einsetzen können, sinnvollerweise einen Politiker von der Regierungspartei und einen von der Opposition. Die müssen vollständiges Einsichtsrecht haben in die Akten, die müssen eigene Mitarbeiter haben, die müssen jederzeit unangemeldet in sämtliche Räume des Geheimdienstes kommen. Zudem muss es möglich sein, dass die Geheimdienstbeauftragten, aber auch die Abgeordneten im Parlamentarischen Kontrollgremium an die Öffentlichkeit gehen. Sonst können sie Fehlentwicklungen nicht verhindern. Natürlich dürfen sie dann wegen des Quellenschutzes nicht alle Details nennen, aber den Sachverhalt als solchen schon.

Wenn jetzt solche Geheimdienst-Reformen umgesetzt werden, nimmt man da nicht die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse in den Bundesländern vorweg?

Nein. Ich kann doch Maßnahmen, die ich schon heute für sinnvoll und erforderlich halte, auch jetzt umsetzen. Wenn die Ausschüsse weitere Erkenntnisse liefern, kann ich immer noch nachbessern.

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