Feiern als Protest

Abitur Kurz vor den Osterferien haben tausende Abiturienten ihre Abischerze und Mottowochen veranstaltet. Dahinter steckt sozialer Protest. Aber gegen was?

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Medien wie die „Rheinische Post“, der „Kölner Stadt-Anzeiger“, die „dpa“ und der "WDR" berichten über Gewalt, Randale, Alkohol, Bengalos und verletzte Polizisten in Bezug auf die Aktionen und Abischerze der diesjährigen Abiturienten – egal ob in Düsseldorf, Remscheid, Köln oder Krefeld. Wie in jedem Jahr haben sich bestehende Rivalitäten zwischen den Gymnasien einer Stadt in Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Abiturjahrgängen am Donnerstag, Freitag oder in der Nacht dazwischen entladen. Wasserschlachten sind ein bewährtes Mittel. Wie in jedem Jahr.

Aber nie waren die Auseinandersetzungen so aggressiv aufgeladen wie in diesem Jahr. Interessant ist dabei, dass die Aktionen unabhängig von einander in vielen Großstädten NRWs Parallelen aufweisen. Hinzu kommt: Diese Aktionen sind seit einigen Jahren mit zunehmender Intensität und vor allem auch unabhängig voneinander zu beobachten. Welche Motive haben also Abiturienten in den Großstädten, sich mutig Freiheiten herauszunehmen?

Das Streben von Eltern, ihren Kindern durch das Abitur zu einem bestimmten sozialen Status zu verhelfen, prägt die Schullaufbahn von Gymnasiasten – nicht erst in der Oberstufe. Nie wurde mehr Geld für Nachhilfe ausgegeben als in den letzten Jahren. Nie haben so viele Eltern die klare Erwartung an ihr Kind gelegt, doch bitte das Abitur zu machen.

Die hohe Zahl der Abiturienten schlägt sich auch auf die Zahl der Studienplätze nieder. Weil nach Leistungen, also der durchschnittlichen Abiturnote, die Plätze vergeben werden, es aber immer mehr Bewerber gibt, steigt der Druck auf jeden Schüler, gute Abiturnoten vorzulegen. Dieser zwischen den Abiturienten bestehende Druck beeinflusst ihr Verhalten: Wer sich selbst disziplinieren kann, Nachhilfe in Anspruch nimmt (und wessen Eltern das nötige Geld dafür haben) und mehr lernt als andere, schreibt eben auch bessere Noten – er oder sie hat aber auch weniger Freizeit, weniger Freiräume, ist bestimmt von Sachzwängen, Erwartungen an sich selbst und denen seiner Eltern. Gleichzeitig wird von denselben auch noch Engagement für Sport, Kunst oder soziale Tätigkeiten erwartet.

Noch nie waren Abiturienten und Gymnasiasten von derart vielen Reglungen, gesellschaftlichen Normen und Erwartungen konfrontiert wie heute. Noch nie war die Konkurrenz zwischen Abiturienten stärker. Noch nie sahen sich Abiturienten, angehenden Akademiker, derart schlechten Berufsaussichten und derart komplexen Anforderungen einer globalisierten Welt und einer derart sozial gespaltenen Gesellschaft mit apokalyptisch anmutenden demographischen Verhältnissen gegenüber. Noch nie haben sich schon junge Menschen mit dem Abiturzeugnis in der Hand sorgen um ihre Rente gemacht.

Aber es gibt ein kleines Zeitfenster befreit von Autoritäten, Normen und Reglungen, in dem sich Abiturienten keine Sorgen um irgendetwas – die Uni-Zulassung, die Karriere, die schlechten Fremdsprachenkenntnisse – und über keine Erwartungen von irgendwem Gedanken machen müssen. Dieses Zeitfenster sind die letzten Tagen an der Schule.

Diese Freiräume, im Alltag kaum vorhanden, werden schlagartig ausgenutzt. Das Korsett der Normen, Sorgen und Erwartungen wird für den Akademiker-Nachwuchs immer enger, die Reaktion auf den plötzlichen Freiraum immer heftiger. Nichts rechtfertigt Gewalt. Aber Gründe für Ungehorsam und Widerstand heutiger Abiturienten wogen noch nie schwerer. Die letzten Tage in der Schule sind der Aufstand gegen ein durch und durch geregeltes und genormtes Leben, das als Abiturient schon bis zum Renteneintritt verplant ist.

„Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen“, appellierte Stephan Hessel an die weltweite Jugend. Ihm wurde dafür große Beachtung und Respekt gezollt. In den Mottowochen und den freizügigen, selbstbestimmten und selbst organisierten Feiern werden Ungehorsam, Trotz, Freiheit und auch etwas Hedonismus ausgelebt. Auch Alkohol gehört selbstverständlich dazu. Die Feiern sind insofern „Bekundungen des Missfallens“ – und das ist die Definition von Protest. In den Auseinandersetzungen mit rivalisierenden Schulen, die in nicht zu rechtfertigende Gewalt umschlägt, überschreiten Abiturienten die Regeln so weit wie sie von diesen sonst eingeschränkt und unerträglich fremdbestimmt werden.

Nach den Aktionen Ende letzter Woche in Köln, Düsseldorf und anderen Städten wurden bereits erste Sanktionsmöglichkeiten verhängt und über mangelnde Disziplin geschimpft. Weitere strafrechtliche Sanktionen werden wahrscheinlich folgen. Das Korsett wird enger. Doch das wird nichts ändern. In Erinnerung an den letzten Jahrgang werden die Aktionen im nächsten Jahr möglicherweise dem Raum Schule entzogen und an andere Stelle – im Stadtpark, auf Plätzen oder sonst wo – verlegt. Oder sie steigern sich schlichtweg, weil die Entfremdung und die Motivation eben gegen diese fremdbestimmte Reglementierungswut, vollkommen übersteigerte Erwartungen und permanente Anpassung an die Konkurrenz Widerstand zu leisten, noch weiter genährt wird.

Eltern, Schulen, Lehrer, Schuldezernate und auch unsere Gesellschaft sind nicht Willens zu begreifen, dass sie jungen Akademikern nicht ein Großteil der Freiheiten nehmen, und gleichzeitig mehr regeln, disziplinieren und fordern können. So unverhältnismäßig wie das Korsett der Erwartungen und Regelungen für Abiturienten sind, so unverhältnismäßig sind ihre Reaktionen, wenn sich jedes Jahr an wenigen Tagen die Gelegenheit zum Protest bietet.

Der Autor hat 2012 Abitur gemacht und studiert Politikwissenschaft an einer Uni in NRW

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Geschrieben von

Felix

Politikwissenschaftler. Tischtennisspieler.

Felix

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