Machtverschiebung in Brüssel

Europäisches Parlament Der konservative Berlusconi-Kumpel Antonio Tajani wird durch einen Deal neuer Präsident des Europäischen Parlaments. Das verschiebt die Machtverhältnisse. Ein Ausblick.

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Heute morgen wurde er öffentlich. Ein Deal zwischen der liberalen Fraktion ALDE und der konservativen EPP. Ein Deal, der Antonio Tajani zum nächsten Präsidenten des Europäischen Parlaments machen wird. Ein Deal, der die Machtverhältnisse in Brüssel verschiebt.

Dass es am 17. Januar, dem Tag der Wahl des Nachfolgers von Martin Schulz (S&D) zum neuen Parlamentspräsidenten, heiß und möglicherweise eng werden würde, war den meisten Beobachtern schon länger bewusst. Drei prinzipiell aussichtsreiche Kandidaten liefen sich wochenlang warm: Guy Verhofstadt (ALDE), Antonia Tajani (EPP) und Gianni Pittella (S&D).

Eingebetteter MedieninhaltEin neuer Präsident würde von mindestens zwei dieser drei Fraktionen unterstützt werden müssen. So viel war klar. Kurz vor dem Showdown im Europäischen Parlament in Strasbourg zog Guy Verhofstadt nun seine Kandidatur zurück und der Deal zwischen ALDE und EPP wurde bekannt. Er kann hier nachgelesen werden.

Mit Unterstützung der ALDE, der kleinen konservativen ECR und seiner EPP wird Antonio Tajani nun neuer Parlamentspräsident. Es verdichten sich außerdem die Anzeichen, dass Tajani durch einen Pakt mit ALDE und ECR die Sozialdemokraten (S&D) im Europäischen Parlament (EP) von etlichen Posten fernhalten möchte. Bisher war es üblich, dass die EPP sozialdemokratische Kandidaten für die Ämter der Vize-Parlamentspräsidenten mitwählt. Tajani hat damit offenbar gebrochen. Die Sozialdemokraten könnten empfindlich viele Posten verlieren, zumal sich die ALDE durch den Deal mit Tajanis EPP den Vorsitz in der mächtigen "Conference of Committee Chairs" gesichert hat.

Aber diese Neubesetzung deutet auf eine Verschiebung der Machtverhältnisse in der Brüsseler EU-Politik hin. Sie ist mehr als ein Verlust von Posten auf Seiten der Sozialdemokraten.

Das politische System der Europäischen Union war bis heute von einem Ausgleich zwischen den Interessen der großen europäischen Parteien gekennzeichnet, insbesondere nach der Wahl von Jean-Claude Juncker zum Präsidenten der Europäischen Kommission. Er hatte diesen Posten erstmals in der Geschichte der EU durch einen echten Wahlkampf der beiden größten Volksparteien in Europa - den Konservativen von der EPP und den Sozialdemokraten von der S&D - errungen. Martin Schulz verlor die Wahl und wurde nach einer ersten Amtsperiode 2012-2014 noch einmal von 2014 bis zum 17. Januar 2017 Parlamentspräsident. In einem bis vor kurzem geheim gehaltenen Deal hatten Schulz und Manfred Weber (CSU), Fraktionsvorsitzender der EPP, festgehalten, dass nach Schulz' zweiter Amtszeit als Parlamentspräsident ein Konservativer diesem Haus vorstehen sollte.

Zum Zeitpunkt dieses Deals war aber ein Mann noch nicht im Amt: Donald Tusk, heute Präsident des Europäischen Rates (dem Gremium der Regierungschefs). Als sich Schulz und Weber 2014 trafen war davon auszugehen, dass das Amt des Präsidenten des Europäischen Rates an einen oder eine Sozialdemokratin gehen würde. Doch dazu kam es nie. Tusk ist auch von der EPP. Kurz vor Ende der Amtszeit des Parlamentspräsidenten sahen sich die europäischen Sozialdemokraten daher an den Deal von Schulz und Weber nicht mehr gebunden, denn dieser wurde - so sehen es heute die Sozialdemokraten - nur vor dem Hintergrund geschlossen, dass einer der drei mächtigsten Posten der EU an die Sozialdemokratie geht: Ratspräsident, Parlamentspräsident oder Kommissionspräsident. Letzterer stand durch die Wahlen 2014 fest. Dann wurde Tusk Ratspräsident. Bleibt der Parlamentspräsident für die Sozialdemokraten.

Aber auch auf diesem Posten sitzt seit heute ein Konservativer. Was ist an diesem Posten so bedeutend?

Der Präsident des EP ist deutlich machtvoller als andere Parlamentspräsidenten. Das hat viel mit Schulz selbst zu tun. Und mit Juncker und Frans Timmermanns, dem Vize in der Kommission. Timmermanns ist Sozialdemokrat.

Weil Juncker nach der ersten echten Wahl eines Kommissionspräsidenten die Kommission politisierte, mehr als europäische Regierung sah denn als Verwaltungsapparat, der die Einhaltung europäischen Verträge überwacht, nahm das Parlament für ihn und seine Kommission deutlich an Bedeutung zu. Um seine Politik gegenüber den Staatschefs zur Durchsetzung zu verhelfen, muss das Parlament seiner Politik zustimmen. Dazu bedarf es einer breiten Mehrheit. Dafür brauchte Juncker Schulz als Sozialdemokrat und als Parlamentspräsident: In dieser Position kann Schulz auf Instrumente und Netzwerke zurückgreifen, um Themen auf die Agenda zu setzen oder bewusst nicht zu behandeln; um Kompromisse zu schließen und Mehrheiten zu organisieren.

Frans Timmermanns aber hatte noch eine weitere Idee: Um Mehrheiten für Junckers Politik zu sichern müssten sich die beiden größten Fraktionen, die Fraktionen von Schulz und Juncker, eng absprechen. So wurde das geheimste Treffen in Brüssel gegründet: Die G5. Ein Treffen der wichtigsten Akteure der Konservativen und Sozialdemokraten: Gianni Pittella, Fraktionschef der S&D; Manfred Weber, Fraktionschef der EPP; Juncker, Kommissionschef und EPP'ler; Frans Timmermanns, Kommissions-Vize und S&D'ler; und Martin Schulz, Parlamentspräsident und S&D'ler. Dieser innerste Zirkel traf sich bis vor kurzem in regelmäßigen Abständen um Kompromisse zwischen Junckers Interessen und den Interessen der großen Fraktionen im EP zu finden und die wichtigen Entscheidungen im EP vorzubereiten. Die Details zu diesem Treffen hat Politico zuerst an die Öffentlichkeit befördert.

Die G5 hat eine informelle große Koalition zwischen S&D und Konservativen vorangetrieben, die sich auch im Deal zwischen Schulz und Weber aus dem Jahr 2014 zeigt. Sie hat der Politik Junckers zu Mehrheiten verholfen, aber den Sozialdemokraten erhebliche Einflussmöglichkeiten auf diese Politik gesichert. Es kam zum Ausgleich von jenen Interessen, die die Mehrheit der Bevölkerung Europas wiederspiegelten. Denn Sozialdemokraten und Konservative haben bei den Wahlen 2014 die übergroße Mehrheit erringen können. Außerdem wird der konservative Juncker in der Kommission von einem sozialdemokratischen Vize flankiert.

Dieser Interessenausgleich sowie die ausgeglichenen Machtverhältnisse durch die Besetzung der mächtigsten Posten der EU sowohl mit Konservativen als auch mit Sozialdemokraten, ist mit der Wahl von Tajani wohl zuende. Parlamentspräsident, Kommissionspräsident und Ratspräsident - alle Posten werden ab heute von Konservativen bekleidet. Bleibt die Runde der G5 bestehen, wenn nur noch ein S&D-Kommissar und ein kaltgestellter Gianni Pittella dabei sein darf?

Mit dem heutigen Tag gehen der Sozialdemkratie wichtige Einfluss- und Informationskanäle in der europäischen Politik verloren. Die Durchsetzung sozialdemokratischer Politik wird schwieriger. Aber bedenklich ist diese Entwicklung für die europäische Demokratie überhaupt. Die Brüsseler Politik ist nun fest in den Händen der Konservativen. Wichtige Interessen von Millionen Menschen erhalten vermutlich deutlich weniger Gehör, weil den Sozialdemokraten jene Posten abhanden gekommen sind, die solche Interessen frühzeitig und informell - beides ist bedeutend - in den Entscheidungsprozess einfließen lassen.

Und die europäische Demokratie könnte heute einen weiteren Schaden davon tragen: Die Konservativen waren von der Verbindung der Wahl des Kommissionspräsidenten mit jener zum EP noch nie glücklich. Aber sie hat die europäische Demokratie lebendig werden lassen. Juncker wird nicht mehr antreten und die EPP hat mit Weber, Tajani und anderen eine ganze Reihe von medial präsenten und bekannten Politikern, die sie potenziell ins Rennen um den nächsten Kommissionspräsidenten schicken können. Wenn sie es denn überhaupt wollen.

Und die Sozialdemokraten? Schulz war medial präsent durch seinen Posten als Parlamentspräsident. Wer kennt Gianni Pittella? Und welchen Sozialdemokraten sollen die Europäer in den nächsten 2 Jahren bis zur Wahl im Jahr 2019 noch kennenlernen, für präsidiabel empfinden und wählen? Frans Timmermanns? Zweifelsfrei ein herausragender Kommissar. Aber wer kennt den? Bleibt eigentlich nur eine: Federica Mogherini. Als EU-Außenpolitikerin und S&D-Frau ist sie zumindest einflussreich, präsent, erfolgreich und etwas charismatischer als Timmermanns.

Die Wahl von Tajani hat also schon jetzt weitreichende Folgen für die Machtverhältnisse in der Europäischen Union. Doch sie könnten schon bald viel gravierender ausfallen. Es geht nicht nur um einen mächtigen Posten, sondern um einen Interessenausgleich und ein ausbalanciertes Machtverhältnis in Europa.

Das Jahr 2017 - das Brexit Jahr - wirft weitere Schatten voraus.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Felix

Politikwissenschaftler. Tischtennisspieler.

Felix

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