Ambiguitätstoleranz: Wir müssen lernen, Ungewissheiten und Widersprüche zu ertragen
Debattenkultur Im Grunde wissen wir unzuverlässig wenig. Und behaupten zuverlässig das Gegenteil. In der Krisenkommunikation verschanzen wir uns hektisch in immer engeren Meinungskorridoren. Unsere Seele braucht das – aber wir können auch anders!
Die Abstandsregeln während Corona haben für viele Menschen Sinn ergeben
Foto: Jochen Tack/Imago Images
Die Krisen der jüngsten Zeit eint, dass sie die meisten Menschen mindestens mittelbar betreffen. Das gilt für die Auswirkungen des Ukraine-Krieges wie für die Pandemie. Beide sind jedoch auch durch große Unsicherheiten über deren jeweiligen Verlauf gekennzeichnet. Und doch fällt vor allem eines auf: Die meisten meinen ganz genau zu wissen, was zu tun ist. Sie sind sich erstaunlich sicher und geben sich erstaunlich rational. Aber ist dies berechtigt?
Gerade in der Pandemie konnten wir diese zur Schau gestellte Sicherheit wohl alle beobachten, im medialen Diskurs, aber auch in unserem direkten Umfeld. Werfen wir einen Blick in mein eigenes: Da ist zum Beispiel Mark, ein Mitte-30-jähriger Familienvater, beruflich im IT-Sektor, intelligent und gebildet. Er erk
et. Er erklärte mir den R-Wert, bevor allgemein davon gesprochen wurde. Mark und mit ihm seine Familie agierten sehr bald um- und vorsichtig, hatten wenig Kontakte und nahmen ihre Kinder im Zweifel aus Schule und Kita. In jeder neuen sogenannten Welle äußerte er fortwährend seine Überzeugung: Die Maßnahmen reichten nicht. Ähnlich wie so viele andere in Politik, Medien und Wissenschaft, hatte er daran keinen Zweifel.In der zweiten Welle dominierte die Forderung nach immer strikteren Maßnahmen den medialen Diskurs. Ergebnis: die „Bundesnotbremse“. Doch die Welle brach, bevor das Maßnahmenpaket seine Wirkung hätte entfalten können – und kaum jemand schien davon Notiz zu nehmen. Niemand sah offenbar einen Anlass, zuvor gefasste Meinungen infrage zu stellen oder gar zu ändern – wir behielten bisherige Positionen einfach bei.Vermeintliche WahrheitAber auch Menschen, die die Gegenposition zu der von Mark einnahmen, zweifelten nicht. Anna etwa, die Mutter eines Jugendfreundes, wusste ebenfalls ganz genau Bescheid. Sie hatte schon in unserer Kindheit eine Neigung zu esoterischen Themen, damals beschränkt auf bunte Steinchen in der Wasserkaraffe. Als die Impfungen verfügbar waren, wusste Anna: Die mRNA-Impfstoffe sind gefährlich, Menschen seien Versuchskaninchen in einem gigantischen Experiment der Pharmaindustrie. Sie berief sich auf Studien, die sie – ohne jegliche wissenschaftliche oder medizinische Ausbildung – weder inhaltlich noch methodisch zuverlässig beurteilen konnte. Dennoch kommunizierte sie offensiv ihre vermeintliche Wahrheit – ohne dabei den geringsten Zweifel zu äußern.Anna und Mark sind mit ihrer Sicherheit jedoch nicht allein, sie stehen vielmehr prototypisch für unsere Debattenkultur. Sie stehen auch für mich, vielleicht – wenn Sie ehrlich sind – auch für Sie, die Leser:innen dieser Zeilen. Auch ich habe gerade in der Pandemie teils vermeintliche Klarheiten in Diskussionen getragen, die nur Monate später an der Realität zerschellt sind. Vollkommen überzeugt ließ ich beispielsweise Menschen in meinem Umfeld im Frühjahr 2020 wissen, dass diese Pandemie unmöglich über den Sommer hinaus andauern könnte, so lange könne auch diese Politik unmöglich durchgehalten werden. Doch warum tun wir dies, obwohl wir nicht annähernd die Kompetenz haben, diese Einschätzungen im Detail zu begründen?Eine Antwort ist: Wir brauchen diese Überzeugungen. Denn wir halten es nicht aus, nicht zu wissen. Aus psychologischer Sicht beschreibt dies einen Mangel an Ambiguitätstoleranz. In unüberschaubaren Situationen sind wir nur unzureichend fähig, Ungewissheit zu ertragen. Deshalb ist unser Debatten-Verhalten nicht rational. Verhielten wir uns rational, würden wir vorsichtig Vermutungen äußern, uns auf Expert:innen beziehen und Argumente austauschen. Wir würden Quellen zwar kritisch hinterfragen, jedoch kaum etwas mit Gewissheit verkünden. Wir müssten bei jeder Meinung, die wir äußern, eingestehen, dass es sich eben darum handelt: um eine Meinung, nicht um Wissen.Das „Team Wissenschaft“ verliert in jedem FallMeinungen sind nicht irrelevant oder notwendigerweise falsch, sie sind ein wichtiger Bestandteil einer demokratischen Diskurskultur, aber der Zweifel muss ihr unermüdlicher Begleiter sein – und dies gilt auch bei Fachleuten. Zwar reduziert Expertise die Unsicherheit von Einschätzungen, doch auch die Prognosen von Expert:innen sind mit Unsicherheiten behaftet. Auch hier lohnt sich der Blick zurück in den Diskurs zum Umgang mit Covid-19.Rückblickend betrachtet hatte der Deutungskampf des „Teams Freiheit“ gegen das „Team Vorsicht“ wohl einen dritten Verlierer: das „Team Wissenschaft“. Denn auch die dominierenden Wissenschaftler:innen führten die Debatte häufig nicht mit der gebotenen Zurückhaltung. So hatte etwa der Virologe Hendrik Streeck früh vorausgesagt, es werde keine weiteren Wellen geben, während sein Kollege Christian Drosten noch im Winter 22/23 eine Verdopplung der Sterbezahlen prognostizierte. Beides war falsch.Diese Fehleinschätzungen wären nicht problematisch, wären sie nicht kommuniziert worden, als handele es sich weitgehend um zweifelsfreie Sicherheiten. Zusätzlich toxisch war in diesen Debatten, dass auch aus der Expert:innenschaft heraus die fachliche und persönliche Integrität von Kolleg:innen mit abweichenden Einschätzungen in Zweifel gezogen wurde, breit orchestriert von unterschiedlichen medialen Lagern. Diese Polarisierung prägte bald den gesamten Diskurs. Mit Blick auf die Wissenschaft ist dieser Verlauf besonders bitter, denn Wissenschaft geht ihrem Wesen nach grundsätzlich davon aus, dass der aktuelle Erkenntnisstand vorläufig und damit korrigierbar ist.Korrekturen? Verpönt!Doch dieses Bild wurde nicht transportiert, stattdessen gelten Fehleinschätzungen und Korrekturen im öffentlichen Diskurs wie privaten Diskussionen als verpönt. Ein Befund, der auch Ergebnis medialer Berichterstattung ist, die sich gierig auf Fehleinschätzungen stürzt. Faktenchecks, sicher stellenweise ein wertvolles Mittel, sind ein Ausdruck dieser Kultur, die natürlich auf Individuen zurückwirkt: Anna, Mark und ich (und Sie?) meinen in unserer Identität als aufgeklärte, mündige Bürger:innen auch nicht irren zu dürfen. Um dies zu erreichen, haben wir diverse Strategien. Beispielsweise gewinnen wir unsere vermeintlichen Wahrheiten aus selektiven Quellen, die unsere Wahrheiten nicht ins Wanken zu bringen.Das ist paradigmatisch: Es geht in der herrschenden Debattenkultur zu häufig nicht um den Austausch von Argumenten, den Abgleich von unterschiedlichen Informationen und darum, diese zur Anreicherung der eigenen Perspektive zu nutzen. Stattdessen scheinen Identitätsfragen im Mittelpunkt zu stehen: Individuen versuchen, sich der Richtigkeit der eigenen Position zu versichern, sich als Personen laut und sichtbar auf der richtigen Seite des Diskurses zu verorten. Psychologisch kann dies als Selbstaffirmation begriffen werden: als den Versuch, sich durch Selbstbekräftigung ein positives Selbstbild aufzubauen. Das Streitthema der Debatte wird somit als Mittel zum Zweck benutzt und Individuen machen ihren empfundenen Wert von einem vermeintlichen Bescheidwissen abhängig.Drang zur SelbstbekräftigungDieser Drang zur Selbstbekräftigung hat auch systemische Ursachen: Eine Gesellschaft, in der alle von klein auf darauf gepolt sind, immer die beste Version ihres Selbst zu sein, erzeugt Individuen, die es vermeiden, ihre eigenen Limitationen zu zeigen. Nichtwissen gilt als nicht akzeptabel, und Widerspruch bedroht den Selbstwert. Doch diese Art der Selbstoptimierung ist dysfunktional. Sie führt eben dazu, dass unsere Ambiguitätstoleranz erschreckend niedrig ist. Widersprüchliche Informationen (ver)stören unser fragiles Selbstbild.Und selbst, wenn uns doch eine Entwicklung eines Besseren belehrt, sind wir selten in der Lage, dies einzuräumen. Stattdessen ersinnen wir Begründungen, weshalb die eigene Prognose im Nachhinein zwar nicht eingetreten ist, jedoch ursprünglich die einzig plausible und deshalb alternativlos war. Wir reduzieren also die kognitive Dissonanz, die entsteht, wenn unser positives Selbstbild durch neue Informationen gefährdet wird. Dazu können beispielsweise auch andere für eigene Fehlentscheidungen verantwortlich gemacht werden. Man kann dies beispielsweise durchaus Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unterstellen, wenn er rückblickend so manche Corona-Regeln als „Schwachsinn“ bezeichnet, die Schuld von „Exzessen“ jedoch auf andere, in dem Fall die Bundesländer, schiebt.Eine andere weitverbreitete Strategie zur Reduzierung kognitiver Dissonanz ist die pauschale Diskreditierung von Quellen, beispielsweise als „mainstreamkorrumpiert“ oder auch als „verschwörungstheoretisch“. Doch kognitive Dissonanz wird häufig von vornherein vermieden – durch die Auswahl unserer Quellen und Informant:innen. Indem wir Informationen nur vorgefiltert, also aus einer Blase, beziehen, unterliegen wir einem sogenannten Confirmation Bias: Wahr ist nur, was zu meiner bereits bestehenden Wahrheit passt. Wir neigen also dazu, Menschen und Medien um uns herum so auszuwählen, dass sie unser kohärentes Weltbild stabilisieren. Die sozialen Medien sind hierzu natürlich ein effektives Werkzeug.Toxisch: Richtig und falsch wird zur Frage der IdentitätSo spiegelt die stark polarisierte Debattenkultur unsere individuellen Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Kohärenz – und behindert einen an der Sache orientierten Austausch. In einer liberalen Demokratie sollte allerdings der zwanglose Zwang des besseren Arguments (Habermas) den Diskurs prägen. Stattdessen sind wir ständig damit beschäftigt, für „das Richtige“ zu streiten. Wobei „richtig“ nicht zuvorderst auf der Sachebene orientiert entschieden, sondern zur Identitätsfrage wird. Zwanghaft versichern wir uns fortwährend der eigenen Richtigkeit – und wehren reflexhaft alle Positionen und Personen ab, die Zweifel bringen, indem wir „Abweichler:innen“ aussortieren, sie „auf der falschen Seite“ verorten. Wir müssen sie als Personen disqualifizieren, damit deren Meinung uns als Personen nicht bedroht. Oft erfolgt dies in Form des Shitstorms – er ist die konzentrierte Form der beschriebenen Selbstaffirmation.Der Shitstorm gleicht einer Welle, in der die Empörten sich gegenseitig versichern, mit den anderen Richtigen zu schwimmen. Im links-progressiven Milieu scheint dies besonders stark ausgeprägt: Statt notwendige Debatten beispielsweise über kulturelle Aneignung oder gendergerechte Sprache zu führen, vertreten die Progressivsten im Habitus der moralischen Richtigkeit ihre eigene Position in einer Entschiedenheit, die jeden Diskurs unterbindet: Das Urteil steht immer schon vorher fest. Traditioneller orientierte Linke hingegen beziehen die inhaltliche Gegenposition, tun dies aber strukturell ähnlich: Sie werten bestimmte Diskussionen als überflüssige Lifestyle-Debatten privilegierter Akademiker:innen ab, die nur vom Kampf um ökonomische Gerechtigkeit ablenken und somit nur ihre Privilegien sichern wollen.Anhänger beider „Lager“ gestehen sich nicht ein, dass sie zunächst nur Meinungen äußern – und kein final richtiges Urteil verkünden können. Meinungen, die das komplexe Substrat individueller Faktoren widerspiegeln, beispielsweise Einflüsse aus jeweils rezipierten Quellen, aus den Herkunfts-Milieus, aus persönlichen, mitunter unzulässig verallgemeinerten Erfahrungen oder aus Erzählungen Dritter. Dies alles gilt es anzuerkennen, wenn wir tatsächlich in einen Austausch gehen möchten. Einen Austausch, der andere respektiert, statt sie zu diskreditieren. Wir müssen aufhören, Andersmeinende als Aggressoren zu betrachten, die unsere Identität bedrohen. Wir müssen lernen auszuhalten, dass sie, wie wir, nur Meinungen vertreten – und dass unser Wesenskern nicht von deren Bestätigung oder Widerlegung abhängt. Damit nicht jede Krise zur Identitätskrise wird, müssen wir unsere Meinungen im Fluss halten, ohne als Person ins Schwimmen zu geraten.Fehlerkultur statt IntoleranzDabei hilft das Bewusstsein und offene Eingestehen der eigenen Grenzen. Weder als Einzelne noch als Gruppe können wir abschließend beurteilen, ob das Tragen von Dreadlocks durch Weiße eine Form kultureller Aneignung und somit auch gleich eine Form von Ausbeutung ist. Oder wie hart die Maßnahmen in einer zukünftigen pandemischen Situation sein müssen. Oder ob die Lieferung schwerer Waffen in ein Kriegsgebiet geboten ist. Keine dieser Fragen lässt sich auf ein schlichtes Richtig oder Falsch verengen. Expert:innen kommen zu einander widersprechenden Urteilen – wie sollten also wir Laien unfehlbare fällen? Wenn wir unsere Limitationen im Diskurs sichtbar machen, würden wir eine Debattenkultur fördern, die einer liberalen Demokratie würdig wäre. Dazu gehört auch, andere Meinungen als andere Perspektiven zu begreifen und uns durch diese informieren zu lassen. Außerdem sollten wir dringend lernen, konträre Perspektiven zu tolerieren, also diese im wortwörtlichen Sinne zu ertragen. Diese können, wie unsere eigenen, falsch sein oder unseren Werten widersprechen. Und zu einer reifen Diskurskultur gehört schließlich anderen auch das Falschliegen und das abweichende Urteilen zuzugestehen – ohne diese Personen dadurch aus dem Diskurs verbannen zu wollen. Lasst uns also lernen, offen miteinander zu diskutieren und offen zu bleiben. Lasst uns akzeptieren, dass wir das Allermeiste zu den allermeisten Zeitpunkten: nicht wissen!