Jugendlicher Leichtsinn trifft auf die Sorgen des Alters

Film Bei der diesjährigen Berlinale feierte Fan Bingbing ihr Comeback. Eine ihrer bisher intensivsten Rollen spielte sie zuvor in 'Buddha Mountain'.

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Dieses erst noch nicht ganz ein Quartal währende Filmjahr hat unter anderem mit der Berlinale und der Oscar-Verleihung schon erste Höhepunkte aufzuweisen. Und wie sich die Filmwelt hierbei präsentiert hat - und wie sie präsentiert worden ist, besteht doch Hoffnung, dass das Kino erst einmal relevantes Kulturgut bleibt. Auch jenseits des stetig expandierenden Dauerbrenners Marvel Cinematic Universe tut sich etwas, die überraschenden Filme haben ihren Platz auf den Festivals und an gesellschaftlicher Relevanz fehlt es den Themen, die der Film behandelt auch nicht. Die zuletzt benannte Beobachtung trifft auf das internationale Filmschaffen zu und nicht zuletzt mit dem deutschen vierfachen Oscar-Gewinner auch für den Film hierzulande.

Schon das Programm der Ausgabe des größten Filmfestivals für japanischen Film, Nippon Connection des letzten Jahres, das endlich wieder vor Ort in Frankfurt am Main in Präsenz stattfand, kann als ein Indiz für die Relevanz herangezogen werden. Das Thema war "Stories of Youth", Geschichten der Jugend. Es ging in den, wieder einmal die verschiedensten Genres umfassenden, Beiträgen beispielsweise um Sehnsüchte, in gleich mehreren Filmen, darunter Unlock Your Heart (2021) und Let Me Hear It Barefoot (2021) um LGBTQ-Themen, um das Teenager-Dasein als Mitglied einer für Außenstehende als obskur wirkenden religiösen Gruppe.

Beeindruckend war Small, Slow but Steady (2022), ein in realistischem Stil und warmen Farben gedrehter Film über eine junge gehörlose Profi-Boxerin, die mit einer Niederlage fertig werden musste und gleichzeitig der unausweichlichen Schließung ihres Boxstalls. In einem überraschenden Indie-Film, Ninja Girl (2021), legt sich im Auftrag ihres im Sterben liegenden Großvaters eine Angestellte der Stadtverwaltung mit ihren Vorgesetzten an um gegen ein rassistisches Gesetz vorzugehen und erfährt in diesem Zuge, dass sie Mitglied einer Ninja-Familie ist.

Eine der Überraschungen der diesjährigen Oscar-Verleihungen, auch wenn sich diese schon anbahnte, ist sicher, dass ein deutscher Film bester internationaler Film geworden ist. Wer hätte dies noch vor nicht allzu langer Zeit dem deutschen Kino überhaupt zugetraut? Die Pandemie ist - zumindest gefühlt - nun schon fast vergessen, der deutsche Beitrag wird, ob es so gewollt ist oder nicht, nun vor dem Hintergrund des nächsten großen Ungemachs, dem Krieg in der Ukraine rezipiert. Es ist eine starke Verfilmung des Romans von Erich Maria Remarque. Erst kürzlich sah ich ihn im Kino. Ein Film, der unter die Haut geht, eine unmittelbare Reaktion aus dem Publikum lautete "das ist schon harte Kost". Hierbei handelt es sich eben nicht um solche hochästhetisierte Darstellung des Militärs, wie in dem unzweifelhaft sehr beliebten Film mit Tom Cruise Top Gun Maverick (2022), der im Übrigen nur einen Oscar abgeräumt hat. Wofür Im Westen Nichts Neues (2022) außerdem ein Beispiel ist, ist, dass das Kino die Streamingdienste nicht außen vor lassen kann. Ob dies nun erfreulich oder eher bedenklich sein mag, so ist dies wohl eher keine Überraschung.

Eine weitere Überraschung bei den Oscars war hingegen aus meiner Sicht der überragende Gewinner, Everything, Everywere, All at Once (2022). Er hatte mich, als ich ihn anschaute, kurz nachdem er in den deutschen Kinos anlief, zwar in den Bann gezogen, erschien mir jedoch zunächst als etwas zu abgefahren, als dass er solche Erfolge einfahren könnte. Siehe da, Michelle Yeoh hat ihre wohlverdiente Ehrung erhalten aber auch Indie-Kino als solches hat gezeigt, was es kann und in gewissem Sinne auch die Jury. Das Multiversum wiederum hat sich als interessanter Multi-Raum zur kreativen Entfaltung erwiesen auch jenseits von Marvel. Ob das Thema noch weiter ausgereizt werden kann?

Nun noch einmal zurück zur diesjährigen Berlinale. In der Ausgabe 08/2023 von der Freitag wurde etwas zu der dieses Mal offenbar recht interessanten Sektion "Perspektive Deutsches Kino" und den auf der Berlinale gezeigten Serien geschrieben. In der Sektion "Panorama" gab es ebenfalls eine echte Überraschung, dort feierte nämlich die chinesische Schauspielerin Fan Bingbing ihr Comeback als Hauptdarstellerin in dem Film Green Night (2023), der in Berlin Weltpremiere feierte. Dies ist der zweite Spielfilm der Filmemacherin Han Shuai, deren Debüt Sommerflirren (2022) äußerst positiv von der Kritik aufgefasst wurde.

In einer Kritik von Clarence Tsui kam Green Night eher medioker weg. Erhielt er auf der Internet Movie Data Base (IMDB) - Stand, 19.03., 01.16 immerhin 6,6 von 10 Sternen, gestand Clarence Tsui dem Film lediglich 2,5 von 5 Sternen zu. Allerdings nennt er die Rolle, die Fan Bingbing darin spielt eine der rauhesten oder wildesten ("rugged" im Original) ihrer Karriere. In dem Film spielt sie eine chinesische Einwanderin in Südkorea, die unter ihrem gewalttätigen Ehemann leidet und sich durchschlagen muss, die zufällig eine Frau mit grünen Haaren trifft. Beide finden zueinander und schlagen sich gemeinsam in der Unterwelt Seouls durch. Da ich selbst nicht während der Aufführungen bei der Berlinale dabei gewesen bin, liegt es mir fern, hier eine eigene Kritik zu verfassen.

Vielmehr ist mir das Comeback auf großer internationaler Bühne von Fan Bingbing ein Anlass, um nun gleich auf einen anderen Film zurückzukommen, in dem womöglich die Rolle mindestens ähnlich "rauh" und "wild" war - auch wenn mir ein direkter Vergleich zu diesem Zeitpunkt nicht möglich ist. Doch in einem Moment mehr dazu. Fan Bingbing war bereits ein Superstar, spielte in diversen chinesischen Produktionen, darunter in Dramen wie Lost in Beijing (2007), an der Seite von Action-Star Donnie Yen in Flashpoint (2007), naben Jackie Chan in Stadt der Gewalt (2009), neben Andy Lau in Shaolin (2011), hatte eine Rolle als Partisanin in dem koreanischen Kriegsfilm My Way (2011) und war auch in Hollywood in der X-Men-Reihe aktiv, um nur einige der Filme zu nennen, in der sie bereits zu sehen war.

Nachdem Fan Bingbing auf Grund von Steuerhinterziehung ins Visier der chinesischen Behörden geraten war, war sie bis vor kurzem eine Zeit lang weitestgehend von der Bildfläche verschwunden. Die Berlinale 2023 markierte ihre Rückkehr ins Kino. In einer Pressekonferenz während der Berlinale sprach sie davon, dass jeder Höhen und Tiefen im Leben habe. Weiter sagte sie, dass sie langsam wieder nach oben klettert und dass Schauspielern etwas ist, was sie wohl ihr ganzes Leben machen wird.

In dem Film Green Night (2023) geht es offenbar recht rauh zu, ihre Rolle darin muss recht intensiv zu spielen gewesen sein. Zuvor spielte Fan Bingbing ihre wohl bisher intensivste Rolle in dem Film Buddha Mountain (2010) unter der Regie von Yu Li. Im Original heißt der Film Guanyin Shan, Guanyin ist der chinesische Name des Boddhisattva des Mitgefühls, Avalokiteshvara. Um Mitgefühl geht es in dem Film dann auch, wobei der Filmtitel einen Ort angibt, der im Film vorkommt. Fan Bingbing, die für ihre Rolle in dem Film sowohl beim 23. Tokyo International Filmfestival als auch bei dem 18. Beijing College Student Film Festival als beste Schauspielerin ausgezeichnet wurde, spielt darin Nan Feng. Nan Feng schlägt sich durch, indem sie in Bars singt und ist befreundet mit Dingbo, gespielt von Chen Bolin und Fatso, gespielt von Fei Long, mit denen sie auch zusammen wohnt. Alle drei sind junge Erwachsene, jugendliche Draufgänger*innen, besonders Nan Feng und Dingbo. Dingbo fährt Waren mit seinem Motorrad aus um später auch in einer Bar zu arbeiten, Fatso hat Freude am Tanzen aber geht zunächst keiner Arbeit nach.

Das Haus, in dem sie wohnen soll abgerissen werden, so trifft es sich, dass sie mit einer pensionierten Opernsängerin, Chang Yueqin, gespielt von Silvya Chang, zusammen ziehen. Sie müssen sich zunächst aneinander gewöhnen, sind aber bald für einander da. Doch eins nach dem anderen. Nan Feng und Dingbo haben hitzige Gemüter und geraten dadurch immer wieder in Schwierigkeiten, in die Fatso eher unfreiwillig mit reingezogen wird. Bei einem Auftritt fliegt Nan Feng das Megaphon aus der Hand, das sie in echter Punk-Manier zusätzlich zum Mikrophon verwendete. Es trifft einen wichtigen Kunden und nun soll sie eine Schadensersatzzahlung leisten.

Dingbo verkauft bald darauf sein Motorrad, auch weil sein Geschäft, das er illegal durchführte, zu heikel geworden ist. Fatso, der im Grunde keiner Fliege etwas zu Leide tun kann, wird auf der Straße von einer Art Jugendgang attakiert und beklaut. Nan Feng rächt sich für ihn an ihnen, schlägt sich selbst dabei eine Flasche an den Kopf und küsst die junge Frau, die zuvor Fatso geküsst hatte, als dieser nach der Tracht Prügel am Boden lag, das Geld bekommt Fatso von der eingschüchterten Gang zurück. Nan Feng und Dingbo rauchen in dem Film zudem recht häufig, alle drei sind sehr spontan und tun die Dinge, wie sie sich ergeben - nur oftmals ohne Rücksicht auf Autoritäten. Nun hat es sich also ergeben, dass sie mit Chang Yeuqin zusammengezogen sind. Den drei Freund*innen steht Chang Yeuqin viel zu früh auf um singen zu üben, Chang Yeuqin kann es nicht haben, dass sie an ihre Sachen gehen. Sie besteht auch darauf, getrennt zu essen. Fatso spielt ihr einmal einen Streich.

Chang Yeuqin wirkt unglücklich, dass merken die drei neuen Mitbewohner*innen. Sie gehen trotz des strikten Verbots weiterhin an ihre Sachen, einmal um Geld auszuleihen - ohne ihres Wissens - und ein weiteres Mal, nachdem sie Chang Yeuqin in einer traurigen Stimmung in einem ihnen unbekannten Raum bermerkt haben, in eben diesen. Er stellt sich als eine Garage heraus, in der ein zu Schrott gefahrener Wagen steht. Im Laufe der Zeit wird klar, wem der Wagen gehörte. Ihr Sohn kam bei einem Autounfall um. Als die Freundin ihres Sohnes zu Lebzeiten, die nunmehr auf einem Bein geht, Chang Yeuqin ausgerechnet am Geburtstag ihres verstorbenen Sohnes besucht, kann sie das nicht schätzen, der Verlust quält sie, sie wirft der Freundin vor, dass ihr Sohn ohne gemeinsame Ausfahrt noch leben würde.

Die drei Freund*innen Nan Feng, Dingbo und Fatso haben allesamt kein besonders gutes Verhätnis zu ihren Eltern. Vor allem zu den Vätern nicht. In einer der intensiveren Szenen des Films, steht Nan Feng ihrem Vater gegenüber, der ein notorischer Trinker ist. Er liegt im Krankenhaus, voller Wut trinkt Nan Feng vor seinen Augen in großen Zügen aus einer Flasche harten Alkohol. Dingbo verzeiht seinem Vater nicht, dass er wieder heiratet, stört schließlich die Hochzeitsfeier und Fatso erzählt Chang Yeuqin einmal, dass er von seinem Vater verprügelt wird.

Die drei Freund*innen sind rebellisch auf ihre Weise, wenn auch in einem diffusen Sinne und gleichzeitig gutmütig. Sie haben ihre eigenen Sorgen und beginnen sich schließlich um Chang Yeuqin zu kümmern. Unter anderem lassen sie das Auto ihres Sohnes reparieren. Der Guanyin Berg ist ein Auszuflugsziel. Einmal fahren sie schwarz mit dem Zug an die Haltestelle, von wo aus sie dorthin kämen. Es ist ein vom Erdbeben gezeichneter Ort.

Fatso dachte, die Freundin des verstorbenen Sohns Chang Yeuqins hätte ihr Bein auch durch ein Erdbeben verloren. Er erfährt von dem Autounfall und erfährt auch, wo sie wohnt, in einem dem Abriss geweihten Haus. Die drei Freund*innen schreiten in ihrer üblichen Spontanität zur Tat und lockern die Schrauben an einer Zufahrt für die Räumfahrzeuge. Dieser Akt der Rebellion gelingt, ein Fahrzeug landet im Graben.

Nach der Begegnung mit der Freundin ihres verstorbenen Sohns, unternimmt Chang Yeuqin einen Selbstmordversuch. Die drei Freundinn*en Nan Feng, Dingo Bo und Fatso versuchen sie aufzumuntern. Schließlich fahren sie gemeinsam zum Guanyin Berg. Dort ist auch ein buddhistischer Mönch anwesend, der den lokalen Tempel aus den Erdbebentrümmern wieder errichtet. Das ungleiche Gespann hilft ihm dabei. Am Lagerfeuer sprechen sie über Glück und Vergänglichkeit.

Das Ende des Films soll hier nicht vorweggenommen werden, nur ist noch ein Nebenplot zu erwähnen. Die Wut, der Nan Feng vor ihrem Vater freien Lauf ließ, rührte auch vom Liebeskummer. Sie mochte schon lange Dingbo, doch dieser hat bei einem Besuch eines Clubs, bzw. einer Disco, zu der übrigens einmal nach ihrem Selbstmordversuch auch Chang Yeuqin mitgekommen ist, etwas mit einer anderen Frau. Wer einmal bei FILMDOO, wo der Film in der chinesischsprachigen Fassung mit englischen Untertiteln zu streamen ist, oder anderswo das Cover zum Film gesehen hat, kennt von dort als Film-Still die zweite Kusszene mit Nan Feng und weiß, wie dieser Nebenplot schließlich ausgeht.

In dem Film geht es um Trauer, um Wut, um zerrüttete Familien, gegeinseitige Unterstützung und Empathie, jugendlicher Leichtsinn trifft darin auf die Sorgen des Alters und ein bisschen von beidem - unabhängig vom Alter - haftet schließlich allen Figuren an. Fabei ist der rapide Wandel, der zum Abriss von Wohnraum führt, deutlich präsent. Der Film kommt ohne besondere Spezialeffekte aus, er lebt vor allem von der schauspielerischen Leistung und nicht zuletzt den Landschaftsaufnahmen. Es ist allerdings eine Filmästhetik, die vielleicht heutztage nicht mehr so gewohnt ist. Wer Fan Bingbing nach ihrem Comeback bei der Berlinale nun noch einmal oder sogar ganz neu kennen lernen möchte, sollte von den zahlreichen Filmen, in denen sie bereits mitspielte, diesen nicht auslassen. Vor Green Night verkörperte sie darin eine ihrer intensivsten Rollen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Ferdinand Liefert

Dipl.-Theologe (Studium in Greifswald / Marburg / Interreligiöses Studienprogramm in Kyoto ).

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