Der Pilger von "Bait al-Qaida"

OSAMA BIN LADEN UND DIE "REVOLUTIONÄRE PRAXIS" Es begann mit einer arabischen Niederlage gegen Israel ...

Bei der Frage nach den geistigen Wurzeln der al-Qaida-Gruppe Osama bin Ladens war von Ferhad Ibrahim in der vorangegangenen Ausgabe (s. Der Weg aus der Finsternis, Freitag 49/2001) unter anderem auf den Islamismus des Ägypters Sayyid Qutb verwiesen worden, der in den sechziger Jahren die Zivilisation als "Ignoranz" definiert und zur Wiederherstellung einer göttlichen Ordnung aufgerufen hatte. Motiv dieser Lehre war ein radikaler Bruch mit der bisherigen Geschichte des Islam, die - mit Ausnahme der 23 Jahre zwischen der Stiftung der Religion und dem Tod des Propheten - als "Zeit der Finsternis" gesehen wurde. Ferhad Ibrahim setzt seine Betrachtung mit einem Blick auf Ägypten als Ursprungsland eines radikalen Islam und auf Afghanistan als dessen Refugium fort.

Es begann im Ägypten der späten sechziger Jahre, es begann mit einer historische Zäsur - der arabischen Niederlage gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg von 1967. Die politisch-moralische Legitimation des damaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser schwand dahin. Die in seinen Kerkern internierten Islamisten - vorwiegend Anhänger der verbotenen Muslimbruderschaft - deuteten die Niederlage als Zeichen der Dekadenz eines despotischen Systems. Nasser wurde zum Ungläubigen (Kafir) erklärt, eine Anklage, die von den traditionellen muslimischen Gelehrten nur in extremen Ausnahmefällen erhoben wird, denn eine Exkommunikation von Gläubigen ist im Islam ein höchst seltener Vorgang. Allein das Bekenntnis (schahada) zu Gott und dem Propheten reicht, um als Muslim anerkannt zu werden. Doch grassierte um jene Zeit eine solche Radikalität, dass ägyptische Muslime, die dem Verdikt gegen Nasser nicht folgten, ebenfalls zu Ungläubigen erklärt wurden.

Es hieß seinerzeit - ob Muslime oder Nichtmuslime - alle, die der göttlichen Herrschaft ablehnend gegenüberstünden seien als Ungläubige (kuffar) zu betrachten. Der Jihad - der Heilige Krieg - gehöre zur Pflicht des Gläubigen, bis eine göttliche Herrschaft erreicht sei. Tausende von jungen Islamisten verließen ihre Ausbildungsstätten oder gaben ihre Berufe auf, um die "islamistische Alternative" unter den einfachsten Bedingungen zu leben und eine feindselige Haltung gegenüber der "ungläubigen Gesellschaft" einzunehmen.

Schauplatz Ägypten

Die davon inspirierte radikal-aktionistische Bewegung formierte sich in den frühen siebziger Jahren unter der Bezeichnung Jihad, geführt durch den Palästinenser Salih Sirria, der die herrschende Schicht - nicht die Gesellschaft an sich - als ungläubig verachtete. Die Gesellschaft, so argumentierte Sirria sei "Opfer des ungläubigen Staates". Nur eine bewusste islamische Avantgarde könne die Gesellschaft vom Staat befreien. Zu den spektakulären Aktionen der Anhänger Sirrias gehörte 1974 der gescheiterte Versuch, eine Polizeikaserne zu stürmen - vor allem aber wurde die Gruppe für das tödliche Attentat auf den ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat (s. unten) verantwortlich gemacht.

In den achtziger Jahren kehrte Salih Sirria zur Ursprünglichkeit der Lehre Sayyid Qutbs (s. Freitag, 49/2001) zurück, der die These vertreten hatte, alle in das politische System der arabischen Länder verwickelten Personen seien ungläubig. Diese Radikalisierung war vorrangig mit dem Namen des neuen Führers der Jihad-Bewegung, Muhammad Abd al-Salam Farag, verbunden, der in den frühen achtziger Jahren die Führung übernahm, nach dem Salih Sirria verhaftet worden war.

Das Leitmotiv für Farag war ein Heiliger Krieg - nach der herrschenden Lehre der islamischen Ulama - als Pflicht der Gemeinschaft (fard kifaya). Sirria hatte in seinem Buch al-farida al-ga´iba ("Die abwesende Pflicht") die Ansicht vertreten, dass der Jihad die Pflicht eines jeden Muslims sei - eine individuelle Pflicht wie das Beten, das Ramadan-Fasten und die Pilgerfahrt nach Mekka - jeder Muslim sei zudem verpflichtet, dem ungläubigen Herrscher die Gehorsamkeit zu verweigern und für die Errichtung des islamischen Staat einzutreten.

Zu den geschilderten Strömungen kamen gegen Ende der achtziger Jahre in Ägypten zwei weitere Bewegungen hinzu: die al-Jama´ a al-Islamiya unter Scheich Umar Abd al-Rahman, der später in den USA für den ersten Anschlag auf das World Trade Center (1993) verantwortlich gemacht wurde, und eine Jihad-Gruppe unter Abud al-Zumar. Der Unterschied zwischen beiden liegt bis heute in deren Aktionsformen. Während al-Jihad eine klandestine Struktur bleiben möchte, legt al-Jama´ a al-Islamiya Wert auf öffentliche Präsenz. Konsens besteht hinsichtlich der Haltung zur westlichen Zivilisation, die übereinstimmend als Verkörperung von Unglaube und Ignoranz (jahiliya) betrachtet wird. Aufschlussreich ist die Karriere, die beiden Gruppierungen seit den späten achtziger Jahren in Afghanistan zu verzeichnen haben.

Refugium Afghanistan

Als nach der Ermordung Sadats im Jahr 1981 die ägyptischen Islamisten in den Untergrund gehen mussten und vom Staat gnadenlos verfolgt wurden, bot sich Afghanistan als Zuflucht an. Wer dorthin ging, betrachtete den Kampf gegen die Sowjettruppen als religiöse Pflicht und sah sich dank finanzieller Hilfe aus Saudi-Arabien bald auch militärisch glänzend ausgebildet und ausgerüstet. Die so formierte Guerilla firmierte in der internationalen Presse unter dem Label "arabische Afghanen". Zu den reichen Saudis, die sich dafür engagierten, zählte Osama bin Laden ebenso wie die saudische Königsfamilie. An der afghanisch-pakistanischen Grenze entstand unter anderem ein Ausbildungslager für die Mudschaheddin, das Bait al-Qaida (übersetzt: Stützpunkthaus) genannt wurde und später der Organisation bin Ladens den Namen gab: "Qaida". Vermutlich geriet der Betreffende selbst - er hielt sich bis zum Abzug der Sowjets 1989 fast ständig in Afghanistan auf - unter den Einfluss des Arztes und radikalen Islamisten Ayman al-Zawahiri - ein Mitglied der ägyptischen Jihad-Gruppe, das wegen seiner Verwicklung in das Sadat-Attentat zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war.

Nach dem Ende des Afghanistankrieges verließen die "arabische Afghanen" zunächst ihr Refugium in Richtung Sudan, Westeuropa und USA, wobei sie untereinander in reger Kommunikation blieben. Einige Gewalttaten, wie die Anschläge gegen ägyptische Politiker und ausländische Touristen, gingen hernach auf das Konto der Jama´a al-Islamiya und des Jihad. Afghanistan selbst wurde erst wieder nach der Machtübernahme durch die Taleban im September 1996 zum Anlaufpunkt von Islamisten aus Ägypten, Algerien und anderen arabischen Staaten. Auch Osama bin Laden und sein engster Vertrauter al-Zawahiri kehrten zurück, doch war Afghanistan mitnichten das Milieu, in dem die "Theorie der Ignoranz" von Sayyid Qutb einen Missionierungsauftrag gehabt hätte, denn Afghanistan war nach dem Sieg der Mudschaheddin ein konservativ-islamischer Staat, der sich konsequent auf die traditionelle Lehre des Islam (al-salafiya) stützte. Die Gottesschüler des Mullah Omar konnten mit der Lehre Sayyid Qutbs wenig anfangen. Doch für Osama bin Laden und seine Glaubensbrüder blieb allein entscheidend, in Afghanistan erneut eine sichere Zuflucht gefunden zu haben, verbunden mit der Hoffnung, dort die "Gottesherrschaft anstelle der Ignoranz" durchzusetzen. Dafür war das Land am Hindukusch jedoch nicht mehr als eine beliebige Folie - Osama bin Laden hätte versuchen können, seinen radikalen Islam auch nach Somalia oder in einen anderen arabischen oder nordafrikanischen Staat zu tragen.

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