Hartz IV - Supergau in Regensburg

"Mord" in Raten Zum sechsten Mal in Folge verweigert das Jobcenter der Stadt Regensburg dem schwerkranken Adriano M. Arbeitslosengeld II.

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Bundesagentur fordert: Gerichtsurteile ignorieren

Wieder muss das Sozialgericht Regensburg entscheiden. Dort hat die Behörde bislang jedes Mal verloren.

Schwerkranker erhält erneut keine Leistungen

Doch das scheint egal zu sein. In einer Stellungnahme argumentiert Jobcenter-Geschäftsführerin Birgitt Ehrl mit „Befehlsnotstand“. Verantwortlich sei die Bundesagentur für Arbeit. Bericht und anschließender Kommentar.

Wieder einmal muss Rechtsanwalt Otmar Spirk für seinen Mandanten im Schnellverfahren der einstweiligen Anordnung gegen das Jobcenter der Stadt Regensburg vor Gericht vorgehen. Am Montag hat die Behörde den Antrag von Adriano M. auf Arbeitslosengeld II ab November abgelehnt – zum mittlerweile sechsten Mal in Folge. Erneut wird die Angelegenheit vor Gericht gehen, wo das Jobcenter bislang jedes Mal verloren hat – auf Kosten des Steuerzahlers.

Geschäftsführerin sieht keine Fehler

Birgitt Ehrl, Geschäftsführerin des Jobcenters Regensburg Stadt, vermag allerdings keinen Fehler ihrer Behörde zu erkennen. Man halte sich an geltende Gesetze, schreibt sie in zwei Stellungnahmen an unsere Redaktion.

„Auch wir sind nicht zufrieden mit der Situation, dass in Einzelfällen Sozialleistungen – wie z.B. im Fall von Herrn M. – wiederholt eingeklagt werden müssen. Doch bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir uns an gesetzliche Rahmenbedingungen, die für jeden EU-Bürger gelten, halten müssen.“

Wie berichtet, ist der 54jährige, aus Italien stammende Adriano M. schwerkrank – er leidet an Chroea Huntington. Seit mehr als 20 Jahren lebt er – mit Unterbrechungen – in Deutschland und hat sich hier die Anwartschaft auf eine Altersregelrente erworben.

Widersprüche in der Stellungnahme

In ihren Stellungnahmen verwickelte sich das Jobcenter in Widersprüche: Zunächst schrieb uns Frau Ehrl, die Erwerbsunfähigkeit von Adriano M. sei festgestellt. Nach konkreten Nachfragen räumt sie in einer zweiten Stellungnahme ein, dass es ein auch für das Jobcenter verbindliches Gutachten der Deutschen Rentenversicherung gibt, das feststellt: Adriano M. ist trotz seiner Krankheit grundsätzlich erwerbsfähig.

Das bedeutet aber: Er hat Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Doch das Jobcenter verweigerte ihm, wie berichtet, konsequent die Leistungen. Drei Mal gab das Sozialgericht Klagen von M. gegen die Leistungsverweigerung Recht – das Jobcenter musste zahlen. Doch schließlich brach er unter der permanenten Belastung zusammen und war zehn Monate obdachlos. Mit Unterstützung von Rechtsanwalt Spirk, der ihn zufällig auf der Straße kennenlernte, bekam er schließlich eine Notunterkunft der Stadt Regensburg. Doch erneut musste er sich sein Arbeitslosengeld II jedes halbe Jahr vor Gericht erstreiten. Und trotz regelmäßiger Niederlagen blieb das Jobcenter bei seiner Verweigerungshaltung. So auch jetzt: Ab November erhält Adriano M. wieder einmal kein Geld und muss wieder einmal klagen.

Juristisch sind Fälle wie jener von Adriano M. komplex. Es geht um Freizügigkeit innerhalb der EU und damit einhergehende Leistungsansprüche. Vor dem EuGH steht demnächst eine Grundsatzentscheidung in einem ähnlich gelagerten Fall an. Ob davon auch die Situation von Adriano M. abgedeckt sein wird, ist bislang noch unklar.

„Grundrecht auf menschenwürdiges Existenzminimum“

Klar ist allerdings: Bis zu diesem Urteil gibt es vorläufige Entscheidungen der Sozialgerichte. Und mit einer Ausnahme entschied das Sozialgericht Regensburg durchweg gegen das Jobcenter. Das zunächst anderslautende Urteil gegen Adriano M. entschied schließlich das Landessozialgericht zu seinen Gunsten: Das Jobcenter musste zahlen. Wörtlich heißt es in dem Beschluss:

„Besonderes Gewicht gewinnt in dieser Situation das Grundrecht des Antragsstellers (…) auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums (…).“

Man könnte also meinen, dass das Jobcenter Regensburg ein Einsehen hat, dem Grundrecht von Adriano M. den Vorrang einräumt und bis zur EuGH-Entscheidung vorläufige Leistungen für ihn gewährt.

Doch Geschäftsführerin Birgitt Ehrl behauptet:

„…die Jobcenter (sind) an die Weisungslage der Bundesagentur für Arbeit und die gesetzlichen Regelungen gebunden. Nach Rückfrage bei der Regionaldirektion Bayern gibt es keine neuere Weisungslage. Somit müssen entsprechende Anträge vom Jobcenter abgelehnt werden und nur im Falle erfolgreicher Klageeinreichung sind Leistungen vorläufig zu gewähren.“

Bundesagentur fordert: Gerichtsurteile ignorieren

Anders ausgedrückt: Die Bundesagentur für Arbeit weist – zumindest Ehrl zufolge – das Jobcenter an, das Urteil des Landessozialgerichts und damit das Grundrecht von Adriano M. auf ein menschenwürdiges Existenzminimum zu ignorieren, es auf Gerichtsentscheidungen ankommen zu lassen und Steuergelder zu verschwenden, um einem schwerkranken Mann das Leben schwer zu machen.

Das bekräftigt auch die Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit in einer Stellungnahme, die uns kurz vor Redaktionsschluss erreicht. Darin heißt es unter anderem:

„Aus Sicht des Gesetzgebers und der Bundesagentur für Arbeit besteht – abweichend von der juristischen Bewertung des Landes Bayern – keine Veranlassung, in den Fällen, in denen das örtlich zuständige Sozialgericht Leistungen (…) zuerkannt hat, eine vorläufige Bewilligung (…) vorzunehmen. Der Regionaldirektion Bayern – die wie die Jobcenter an die bestehende Rechts- und Weisungslagelage gebunden ist – obliegt es nicht, für ihren Zuständigkeitsbereich dem entgegenstehende Weisungen bzw. Ermessenspielräume zu erteilen bzw. einzuräumen.“

Anders ausgedrückt:

Die Bundesagentur für Arbeit zwingt die Regionaldirektion und damit auch das Jobcenter, regelmäßig Leistungen zu verweigern – trotz anderslautender Rechtsprechung des Landessozialgerichts.

Abschiebung wird immer noch geprüft

Für Rechtsanwalt Otmar Spirk stellt sich angesichts dessen die Frage, „ob wir in einem Rechtsstaat leben“. Das Sozialgericht einschließlich des Landessozialgerichts Bayern erkenne Adriano M. schließlich seit zweieinhalb Jahren Arbeitslosengeld II-Leistungen zu. Das Jobcenter habe bisher weder ihm gegenüber noch vor Gericht mit einer Weisung der Bundesagentur für Arbeit argumentiert.

Das Prüfungsergebnis zur Abschiebung von Adriano M., die das Jobcenter nach den zahlreichen verlorenen Klagen schließlich bereits Anfang März und dann nochmals im Mai beim Ausländeramt der Stadt Regensburg angestrengt hat, steht nach einem halben Jahr immer noch aus. Wir werden weiter darüber berichten.
(Quelle: regensburg-digital.de)

Kommentar:
(Autor unbekannt)
Der Fall von Adriano M. bringt es an den Tag: Die Behörde zeigt keinerlei soziale Verantwortung im Umgang mit ihren, zynischerweise als solche bezeichneten „Kunden“. Im Zweifel wird diese Verantwortung einfach auf die nächsthöhere Stelle – die Bundesagentur für Arbeit – abgewälzt. Dabei ist längst nicht eindeutig geklärt, dass das Jobcenter bei Adriano M. keinen Ermessensspielraum gehabt hätte. Und es ist vor allem nicht eindeutig geklärt, dass sich die Behörde – wie von der Geschäftsführerin behauptet – an Recht und Gesetz hält.

Eindrucksvoller Beleg ist die Praxis des Jobcenters, den Forensik-Insassen in der letzten Resozialisierungsstufe die Leistungen zum Lebensunterhalt zu verweigern – trotz anderslautender höchstrichterlicher Rechtsprechung. Trotz eindeutiger Rechtslage. Auch damals berief sich die Geschäftsführerin auf angebliche generelle Weisungen der Bundesagentur.

Erst nachdem Regensburg Digital am 25. Juli darüber berichtet hatte, wurde urplötzlich Einzelfallprüfung zugesagt. Zuvor hieß es: Erst einmal Leistungen verweigern. Erst einmal gegen den Schwächeren. Und dafür sind nicht in erster Linie einzelne Sachbearbeiter verantwortlich zu machen. Der Fisch stinkt vom Kopf her.

In Regensburg ist das zunächst die Geschäftsführerin, im nächsten Arbeitsagentur und Stadt Regensburg, die sich die Zuständigkeiten für das Jobcenter vor Ort teilen und schließlich die Bundesagentur für Arbeit. Am Ende ist es aber eine Hartz IV-Gesetzgebung, die Menschen zu Almosenempfängern degradiert und sie unter den Generalverdacht des Sozialbetrugs stellt. Es ist eine Praxis, in der Sachbearbeiter mit viel zu hohen Fallzahlen und ständig wechselnden Weisungen konfrontiert sind, als dass sie auf die Betroffenen, bei denen es oft nur um die nackte Existenz geht, anders reagieren könnten als mit dem Abwälzen von Verantwortung und einer emotionalen Hornhaut.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

FHP: Freie Hartz IV Presse

Perry Feth: SGB II - Aktivist u.Publizist! Als Eltern müssen wir gegen jede Art von Unrecht in der Hartz IV - Gesetzgebung - Widerstand leisten!

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