Ich lächle dir kurz zu, und wir wissen beide, was passiert. Zwei lockere Stöße auf mein Schulterblatt. Ich erwidere deinen Gruß, tue das Gleiche. Wir schauen uns in die Augen. Ich frage dich, wie es geht. „Ja, alles gut. Alles beim Alten.“ Wir wiederholen das Ritual, als du dich verabschiedest. Nach zwei Sekunden ist es vorbei. „Männer, die vor Männern Angst haben“, heißt die Überschrift eines Blog-Eintrags auf cuddlers.net. Die Seite bietet interessierten Personen gegen Bezahlung „einfach nur zu kuscheln“ an, ohne Sex. Die Autorin meint, besonders Männer hätten Probleme zu kuscheln. Weil sie sich ohne sexuelle Absichten nicht anfassen würden, wird da argumentiert. Diese Angst läge an „Biologie und gesellschaftlicher Prägung“. Ich überflog die Seite, schloss den Tab und las woanders weiter. Gerade ist Corona, an Berührungen mit fremden Menschen ist sowieso nicht zu denken, schien also nicht weiter lesenswert. Aber irgendwie ließ mich der Gedanke nicht los. Wie eine regelmäßige Aufforderung zum System-Update auf meinem Laptop erschien in meinem Kopf ständig ein kleines Fenster und verlangte nach Antworten auf Fragen, mit denen ich mich noch nie wirklich beschäftigt habe.
Aber welche Fragen eigentlich? Wie ich zu Berührungen als cis-hetero Mann stehe, wusste ich, zumindest dachte ich das. Ich mochte sie, in bestimmten Momenten, wenn mir danach war, vor allem mit Frauen. Hatte ich mal bewusst mit Männern gekuschelt? Statt eines Schulterklopfens eine innige Umarmung versucht? Nein. Deshalb wollte ich wissen, warum. Was bedeuten Berührungen und Körperlichkeit mit Männern für mich, welchen Zweck haben sie, in welchen Kontexten wurden sie erlaubt und akzeptiert, in welchen abgewertet? Haben fehlende nicht sexuelle Berührungen und Körperlichkeit zwischen (cis-hetero) Männern einen Einfluss darauf, Gefühle zu zeigen und auszudrücken? Ich ging auf Spurensuche und landete zunächst auf dem Schoß meiner Eltern.
Fußball, Cha-Cha-Cha, Jive
Ich bin vier Jahre alt, es ist 1996. Meine Mutter hat mittellange, lockig-wellige Haare, an denen sich meine Hände festhalten. Wir sind im Wohnzimmer, der Fernseher ist an, es laufen türkische Nachrichten. Ich lasse einzelne Haarsträhnen zwischen meinem Mittel- und Zeigefinger gleiten, mein Vater sieht mich glücklich auf dem Schoß meiner Mutter, gibt mir einen Kuss auf die Wange und geht in die Küche, der Tee ist fertig. Ein vertrautes Bild, das sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht. Sowohl der Schwarztee als auch Körperlichkeit sind Teil meiner Familie und ihres Umgangs mit mir. Ein Küsschen von Mama und Papa zum Frühstück oder innige Umarmungen mit meinen Verwandten in der Türkei. Dort sah ich oft, wie junge, aber auch ältere Männer ganz selbstverständlich beim Flanieren die Hand hielten. Körperlichkeit unter cis-hetero Männern in der Öffentlichkeit war kein Tabu, außer es gab sexuelle Absichten. Homosexualität ist wiederum verpönt, zumindest im öffentlichen Raum. Wangenküsschen von meinen Onkeln am Flughafen gehörten jedoch zum guten Ton, wenn wir uns wieder verabschieden mussten, weil die sechs Wochen Sommerferien vorbei waren und der Flug aus Izmir zurück nach Frankfurt am Main nicht auf uns warten würde.
Auf den Straßen der Sommerhaussiedlung spielte ich oft bis spätabends mit den Nachbarskindern Fußball, in Deutschland meldete ich mich mit acht Jahren im Verein an. Das war nicht selbstverständlich, parallel tanzte ich später in einem Tanzverein wöchentlich Cha-Cha-Cha und Jive, es machte mir viel Spaß, aber ich hielt damit vor meinen Freunden meist zurück. Dann lieber Fußball. Es tat gut, mit Gleichaltrigen zu spielen, zu gewinnen – und wenn wir ein Tor schossen, uns in einer Feiertraube zu umarmen, uns sogar manchmal aufeinanderzuwerfen, weil wir bei einem E-Jugend-Turnier ungeschlagen Sieger wurden. Wir gaben uns bei der Siegerzeremonie fleißig High fives, legten die Hände um die Schultern, jubelten, berührten uns. Das war selbstverständlich, weil das Team zählte und Körperlichkeit dazugehörte. Was sich bei mir zu Hause richtig anfühlte, war beim Fußball auch so, zumindest bis zu einem gewissen Grad. 15 Jahre später das Gleiche beim nächsten Fußballverein in Berlin, bei dem ich mich anmeldete. Gleiche Rangeleien, gleiche Umarmungen, gleiche Jubeltrauben, und vor allem ähnliche Vorstellungen von Männlichkeit. Auf der einen Seite steht Fußball für den Inbegriff von cis-heteronormativer Männlichkeit. Mit Männern schweißgebadet unter körperlicher Anstrengung kämpfen und siegen, stark sein, ohne Gnade in die Zweikämpfe gehen. Unbedingt gewinnen wollen, seinen „Mann stehen“, Führung übernehmen – und wenn alles vorbei ist, ein kühles Bier aufmachen, weil irgendjemand hat auf jeden Fall einen Kasten mitgebracht.
Auf der anderen Seite gehört es als Fußballer auch dazu, füreinander da zu sein, miteinander ehrlich zu sprechen, ohne Kommunikation geht auf dem Feld bekanntlich nichts. Sich gemeinsam freuen, abklatschen, auch mal Emotionen zeigen, damit das Team nach einem Rückstand wieder auf die Spur geführt wird. Nach Niederlagen flossen manchmal Tränen, ein Mitspieler war meist sofort da, um dir die Hand zu reichen und zu sagen: wird schon. Wie damals Oliver Kahn, als die Nationalmanschaft im WM-Halbfinale gegen Italien 2006 ausschied, bei Jens Lehmann.
Sind das jenseits des Spielfelds Verhaltensweisen und Eigenschaften, die bei gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit abgewertet werden, nicht dazugehören? Besonders wenn Männer nach Schlusspfiff untereinander Körperlichkeit zeigen, die über den festgelegten Rahmen akzeptierter, als männlich definierter Körperlichkeit gehen, ist das nicht wirklich gern gesehen, weil damit oftmals Homosexualität verbunden würde und das, allen Bekundungen zum Trotz, im Fußball immer noch tabuisiert ist.
Warum zeigt sich gerade dort die Ambivalenz von Berührungen? Im Kontext von Sport werde der Wunsch nach Umarmungen überspielt, schreibt Samy Malcho in Umarme mich, aber rühr mich nicht an: Die Körpersprache der Beziehungen. Männliche Heranwachsende überspielen ihr Verlangen nach Umarmung oft mit Kampfeslust.
Väter und Söhne
Die Berührungen seien notwendiger Teil, um Männlichkeit zu beweisen, zum Beispiel beim Rangeln. Man berührt sich, um bestätigt zu werden, Körperlichkeit findet Legitimierung nur dann, wenn sie mit emotionalen Ausbrüchen wie z.B. beim Sport performt werde, meint Malcho. Aber wieso können diese Berührungen nicht auch ohne den Gedanken funktionieren, dass man seine Männlichkeit damit beweisen muss? Ich habe herumgefragt – und landete diesmal weniger bei Biologie, sondern bei gesellschaftlicher Prägung. Besonders die Beziehung zum Vater sei von großer Bedeutung: „Väter dürfen nicht aufhören, ihre Söhne zu umarmen oder mit ihnen zu kuscheln“, meint Laura*, eine Freundin. Sie sei vor allem davon irritiert, dass sich Väter und Söhne oft per Handschlag begrüßen, wie unter Geschäftspartnern. Andere sagen, im Kindesalter würden diese Verhaltensweisen, das Umarmen ohne in einer Kampf- oder Rangelsituation zu sein, verlernt. Das zeige sich vor allem darin, dass Jugendliche, falls sie die Grenzen von körperlicher Nähe und Berührungen überschreiten oder einem Jungen ein Kompliment machen, zur Sicherheit „No Homo“ sagen würden, sprich: Ich will dich umarmen und dir ein Kompliment machen, aber um meine (heterosexuelle) Männlichkeit nicht infrage zu stellen, mache ich klar: Ich bin nicht homosexuell. Das ist gefährlich und problematisch. Nicht nur, weil homophobes Verhalten reproduziert wird und nicht-hetero Männlichkeit abgewertet, sondern die fehlende Berührung unter Männern einen emotionalen Austausch verhindert. Eva, eine Userin, meint: „Wenn man keine Gefühle zeigt, spricht man auch nicht darüber. Dann gerät man in einen Teufelskreis.“ In diesem Teufelskreis bin ich bis heute noch zum Teil. Auch wenn ich männliche Freunde habe, mit denen ich mal mehr, mal weniger über Intimes reden kann, merke ich, dass ich immer noch Probleme damit habe, es ist nicht die Norm für mich. Bei Begrüßungen klopfe ich immer noch auf den Rücken. Aber ich versuche, längere Umarmungen zuzulassen. Das wirkt wie ein kleiner Schritt. Das stimmt auch. Aber der fehlende körperliche Austausch mit Männern lässt mich denken, dass ich nicht über Intimes reden kann, Ängste zulassen, Vertrautes teilen sollte. Aus Angst, abgewertet zu werden. Dennoch möchte ich den Austausch. Ich ertappe mich, wie ich vor allem mit meinen besten Freundinnen oder meiner Freundin über Gefühle rede, was mich umtreibt, mich besorgt, die Details. Mit meinen männlichen Freunden passiert das nicht so oft, nicht in der Form, der Tiefe.
In meiner Familie ist das nicht so, auch mit meinem Vater nicht. Wenn ich aus Berlin nach Hessen fahre und aus dem Zug steige, freut er sich wie ein kleines Kind, wenn er mich sieht. Manchmal versteckt er sich an der Ecke des Bahnhofsgebäudes, weil er denkt, ich habe ihn nicht gesehen, und will mich überraschen. Als wir dann voreinanderstehen, schauen wir uns in die Augen. Er nimmt mich in den Arm. Hält mich lange fest. Drückt meinen Kopf leicht an seine Schulter. Gibt mir einen Kuss auf meine linke Wange und einen auf die rechte. „Nasılsın oğlum?“ Wie geht’s dir, mein Sohn? Mir geht’s gut, Papa. Danke. Auf der Heimfahrt reden wir über das, was mich beschäftigt, wie es mir wirklich geht. Ich denke an den Artikel bei cuddlers.net, er endet mit der Frage: „Lasst uns die Situation für Männer in unsrer Gesellschaft verbessern, okay?“ – ja, das wünsche ich mir auch. Und dafür braucht es lange Umarmungen, Küsschen und nicht nur ein kurzes Klopfen auf den Rücken. Denn fehlender emotionaler Austausch hat reale Konsequenzen, nicht nur für zwei Sekunden, sondern ein Leben lang.
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*Name von der Redaktion geändert
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