Katalanischer Ungehorsam, aufgeklärt

Demokratie Stell dir vor, da schreibt einer auf sein Wahlplakat, für euch und mehr Demokratie nehme ich Strafen und Gefängnis in Kauf und gewinnt. Da können wir doch einpacken.

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Selbst die Befürworter eines katalanischen Unabhängigkeitsreferendums wissen und postulieren, dass mit einer Annahme keine Unabhängigkeit gegen Spanien, sondern nur mit Spanien und Europa möglich ist und dass dieses Mit sich maximal als eine Konföderation verhandeln und gestalten lässt. Dies setze zugleich eine Überwindung und Aktualisierung der Idee des klassischen Nationalstaats voraus. Dieser eminent europäische Gedanke motivierte die gewagte Strategie einer idealistischen und zugleich transparenten Verhandlungsposition einschliesslich kalkuliertem Verfassungsbruch: Europa wird als Garant eines fortschrittlichen und aufgeklärten Demokratieverständnisses bereitstehen und den Unabhängigkeitsprozess Kataloniens auch als Chance für Europa begreifen. Eine Ausweitung der Legitimationskrise kann sich Europa nicht leisten, ganz im Gegenteil, Europa brauche neue Wege und Impulse und Spanien werde schon deshalb nicht wie bisher oder zumindest nicht nur mit Polizeigewalt und Strafverfolgung antworten. Ihre wirkliche Fallhöhe und tragische Dimension erreicht diese Fehleinschätzung des demokratischen Spiel- und Freiraums jedoch erst durch ihre Bestätigung als Regierungsauftrag für Katalonien durch die Wähler und die Verweigerung der Opposition, - vertreten durch die spanischen Hegemonieparteien -, diesen Wählerauftrag als legitim anzusehen. Diese Verweigerung verhinderte von Beginn an jeglichen Dialog, selbst in Form geringster Zugeständnisse und Angebote. Ganz oben auf der Agenda der spanischen Staatsräson stand seit den Wahlen zum katalanischen Parlament im September 2015 die Kriminalisierung, Zerstörung und bedingungslose Kapitulation aller zivilgesellschaftlichen Akteure, die ein solches Wahlverhalten zeigen, repräsentieren, tragen oder fördern. Ab dem 1. Oktober wird dann der ganz grosse Repressions-Showdown geboten:

Die spanische Regierung der Partido Popular unter Mariano Rajoy wird auch und gerade im Namen Europas und der Demokratie, ein bisher unvorstellbares Exempel statuieren und nach Politikern und Organisationen eine grosse Anzahl von unbescholtenen Bürgern vor Gericht bringen und verurteilen. Diesen Bürgern kann nichts weiter vorgeworfen werden als Träger und Wähler einer demokratisch legitimen, jedoch unerwünschten Willensbildung zu sein. Für die Gelegenheiten hierfür hat der Staat selbst gesorgt, in dem er den demokratisch ausgedrückten Willen an einem verfassungsgerichtlich verbotenen Referendum teilzunehmen als strafbaren Ungehorsam gegenüber den Verfassungsorganen bewertet. Dass diese Auffassung aller Voraussicht nach keinen Bestand vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben wird und vom Grundrecht auf politische Willensbildung und Meinungsfreiheit gedeckt ist, kümmert den spanischen Staat wenig, solange das Ziel der Abschreckung von Nachahmern verwirklicht ist. Der Staat Spanien macht sich nicht einmal mehr die Mühe seine Verfassung selbst einzuhalten und hat sie zur Erreichung dieser Ziele bereits mehrfach gebrochen. Aktive Befürworter eines Unabhängigkeitsreferendums sind potentielle Verfassungsfeinde und haben jegliches Anrecht auf den Schutz durch die Verfassung verloren. Das Erschreckenste: dies sei ganz normal in einer aufgeklärten, modernen Demokratie, deren Schutz und Selbstbehauptung über allem stehe.

Warum aber schweigt Europa? Und warum schweigt die Sozialdemokratie? Die Frage, warum Millionen von Menschen, Ladenbesitzer und Angestellte, Priester und Beamte, Studenten und Bauern, Arbeiter und Handwerker, Schüler und Lehrer, trotz eines enormen Polizeiaufgebots, am kommenden Sonntag in den Modus des zivilen Ungehorsams schalten werden, ist Tabuthema für das offizielle Europa und die europäische Sozialdemokratie. Es handele sich um eine innere Angelegenheit Spaniens, so der einhellige Tenor. Dabei bietet der Versuch diese Menschen zu verstehen, gerade für die Sozialdemokratie Perspektiven für die Überwindung der eigenen wie auch der permanenten Krise Europas. Anders als es in Deutschland und Europa ankommt, ist die katalanische Frage eine sozialdemokratische, eine europäische Frage. Viele Katalanen glauben zutiefst daran, dass eine katalanische Republik mehr statt weniger Solidargemeinschaft ermöglicht und dass dieser Anspruch im status quo Spaniens und Europas keine Zukunft hat und von der Sozialdemokratie und mithin Europa aufgegeben wurde. Ja mehr noch, sie glauben, dass ihr Einsatz für mehr Demokratie und soziale Gerechtigkeit für Spanien und Europa notwendig sind. Dies ist der identitäre Gravitationspunkt der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung. Es geht also um den Ausgleich des Legalen mit dem Legitimen und mithin stehen wir vor einem klassischen Bürgerrechts- und Sozialkonflikt, den die Sozialdemokratie und Europa mal wieder verschläft. Der Gestaltungs- und Partizipationswille der Katalanen wird unterdrückt werden, daran gibt es inzwischen keinen Zweifel mehr. Morgen gibt’s dann Katzenjammer der politischen Eliten und übermorgen Politikverdrossenheit und die Populismen der schönen Sorte: Europa, sei einig! Europa, sei gross, Europa, sei frei! Sieg Heil Europa!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

filliou

Uli Hake lives in Barcelona. He has a deep interest in observing and analyzing Identity politics.

filliou

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