Nach dem selbstgefälligen Wetterleuchten im Gefolge der Attentate sind Spanien und Katalonien wieder am Katzentisch der öffentlichen Wahrnehmung Europas plaziert. Dabei verdiente die politische Wetterlage über der iberischen Halbinsel höchste Aufmerksamkeit. Am ersten Oktober 2017 sind die Katalanen aufgerufen, über die Unabhängigkeit Kataloniens abzustimmen. Kriminell und verboten für die einen, unverbrüchliches Anrecht auf nationale Selbstbestimmung und letztes Mittel für die anderen, hat das Referendum alle Zutaten für einen der heftigsten Stürme der letzten Jahrzehnte, mit Gegensatzpaaren wie sie grösser nicht sein könnten: Auf der einen Seite eine friedliche, resolute und auch inhaltlich bemerkenswerte Koalition linker wie rechter Separatisten mit enormem Rückhalt in der katalanischen Bevölkerung, auf der anderen die rechtskonservative Zentralregierung sowie die Profiteure der spanischen Transición von 1978, zu denen geschichtlich die Überreste der spanischen und katalanischen Sozialdemokratie zählen. Zusammen konfigurieren diese Kräfte eine Grosswetterlage, die sich in düstersten, von den Medien befeuerten Prognosen entlädt und überbietet. Während die spanische Zentralregierung und der "Block der Demokraten" (PP, PSOE, Ciudadanos) Gewalt aller Art heraufbeschwört (und staatlicherseits bereits einsetzt), sehen die Separatisten eine Sturmflut zivilen Ungehorsams voraus und lassen sich bisher selbst von härtesten Strafandrohungen und bereits ergangenen Urteilen nicht schrecken.
Den letzten bedeutenden Versuch diese Kräfte einzudämmen, unternahm von 2004 bis 2006 der sozialdemokratische Ministerpräsident Kataloniens Pasqual Maragall. Im Vertrauen auf die versprochene Unterstützung durch die sozialdemokratische Regierung Spaniens unter José Luis Zapatero erarbeitete seine Regierungskoalition in Zusammenarbeit mit weiten Teilen der katalanischen Opposition ein konföderales Autonomiestatut, das Katalonien als annäherend gleichberechtigte Nation innerhalb des spanischen Staates definierte. Vom katalanischen Parlament mit überwältigender Mehrheit mit einzig 15 Gegenstimmen der Partido Popular unter 135 Parlamentariern angenommen, stand nun die Zustimmung durch Kongress und Senat in Madrid aus. Unter Aufkündung der Loyalität mit Maragall kürzten Zapatero und die spanische Sozialdemokratie in vorauseilenden Nachverhandlungen mit dem katalanischen Oppositionsführer Artur Mas vieles, was in erzkonservativen Kreisen Spaniens und im Establishment in Madrid auf Hass und Abneigung stiess. Zurechtgestutzt passiert das neue Autonomiestatut die parlamentarischen Hürden in Madrid. Im nachfolgenden Referendum, dem dritten mit bindender Kraft in der katalanischen Geschichte, gelingt gleichwohl die Ratifizierung durch die katalanische Bevölkerung. Mit Staunen erleben die Katalanen jedoch, dass selbst das zurechtgestutzte neue Autonomiestatut keine Verteidigung durch die sozialdemokratische Zentralregierung erfährt, ihre Zustimmung und ihr Parlament nichts wert sind. Innerhalb kürzester Zeit entsorgten sozialdemokratische Provinzbarone aus dem Rest Spaniens und historische Gallionsfiguren der Sozialdemokratie wie Felipe González, José Bono und Alfonso Guerra in Allianz mit der erzkonservativen Partido Popular das ratifizierte“Estatut d’autonomia de Catalunya”. Pasqual Maragall stürzt über diesen auch von katalanischen Parteigenossen getragenen Verrat und nach ihm verkommt die einst mächtige katalanische Sozialdemokratie in kürzester Zeit zum bedeutungslosen Nebendarsteller.
Sicherlich ist der Umgang der spanischen Sozialdemokratie mit der katalanischen Frage (und ihrer katalanischen Schwesterpartei PSC) mehr Symptom als Ursache, er bestätigt und verstärkt jedoch in den Augen vieler Wähler und Kritiker das Image des devoten Steigbügelhalters für erzkonservative und neoliberale Interessen, das Image des prinzipienlosen Windbeutels. 2010 werden durch das vorwiegend konservativ bestallte spanische Verfassungsgericht die definitiven Todesglocken für das von den Katalanen ratifizierte Statut geläutet. Anders als erwartet reagieren die Katalanen nicht mit Trauer und Resignation, sondern mit einer in Europa beispiellosen Kampagne zivilgesellschaftlicher und parteiübergreifender Selbstorganisation. Der Assemblea Nacional de Catalunya (ANC) und Òmnium Cultural gelingen ab 2012 jährlich zum katalanischen Nationalfeiertag am 11. September, Mobilisierungen in Grössenordnungen, die in Europa und der Welt ihresgleichen suchen. Zwischen einer und zwei Millionen Katalanen verlangen von da an jährlich ihr Recht auf Selbstbestimmung und einen eigenen Staat. Neben dieser bewunderswerten Mobilisierungsleistung und Konstanz muss die Wahlallianz zwischen der konservativen Volkspartei Convergència, heute Partit Democràta de Catalunya (PDeCat) und der linksliberalen Partei Esquerra Republicana, kurz ERC, als strategisch wichtigste Leistung dieser Mobilisierung angesehen werden. Diese Allianz gewinnt im September 2015 die Wahlen zum katalanischen Parlament mit dem erklärten Ziel innerhalb von 18 Monaten die Bedingungen für die Erklärung der Unabhängkeit Kataloniens zu schaffen, wenn nötig einseitig und im zivilen Ungehorsam gegenüber den Verfassungsorganen Spaniens. Als visionäre Ausgestaltung eines unabhängigen Kataloniens beschliesst dieses Regierungsbündnis mehrere richtungsweisende Gesetze im sozialen Bereich: das verbriefte Recht auf Wohnung, das Gesetz gegen Energiearmut und das Gesetz der garantierten Grundrente für Bürger und Familien ohne Einkommen. Damit bricht dieses Bündnis nicht nur formal sondern auch inhaltlich mit der spanischen Monarchie und dem neoliberalen Establishment Spaniens und Europas.
Ähnlich wie die baskische konservative Volkspartei PNV pflegten die Schwesterparteien Convergència i Unió (CiU) von Jordi Pujol, Josep Antoni Duran i Lleida und Artur Mas bis 2010 eine staatstragende Paktpolitik mit Madrid und verkauften die spärlichen Gegenleistungen aus Madrid als Gewinn für das katalanische Gemeinwesen. Der wohl grösste strategische Fehler des konservativen und sozialdemokratischen Madrids war die vollkommene Entwertung des erzielten Paktes mit Artur Mas und dessen staatstragender CiU. CiU lief damit Gefahr, jeglichen Kredit bei ihren Stammwählern zu verlieren; Korruption zum eigenen Spielvorteil und Bereicherung wird den Parteien in Spanien und Katalonien verziehen, nicht jedoch widerstandslose Demütigung.
Den Niedergang der katalanischen Sozialdemokratie allzu nah vor Augen, trat die Grössere der beiden Schwesterparteien der CiU, die Convergència, die Flucht nach vorn an und löste sich von ihrer neoliberalen Schwesterpartei Unió, die auf einer Fortsetzung der Pakt- und Bündnispolitik mit Madrid bestand. Kurz darauf entsteht das bereits erwähnte monothematische Wahlbündnis mit Esquerra Republicana unter dem Namen Junts pel Sí (Gemeinsam fürs Ja zur Unabhängigkeit) und gewinnt die katalanischen Parlamentswahlen. Als Kulminationspunkt dieser Entwicklung verabschiedet das katalanische Parlament am 6. und 7. September 2017 die seit mehreren Monaten angekündigten Gesetze zum Referendum für die Unabhängigkeit Kataloniens und die anschliessende transició hin zur katalanischen Republik. Trotz präventiver Suspendierung durch das spanische Verfassungsgericht und extremen, gefängnisbewährten Strafandrohungen auf Grund von Rechtsbeugung, Veruntreuung öffentlicher Gelder (sic) und Amtsmissbrauch beharrt die katalanische Landesregierung sowie die grosse Mehrheit der katalanischen Bürgermeister auf der Rechtmässigkeit und Durchführung des Referendums. Das empörte Madrid reagiert brachial und ohne Befürchtung internationaler Konsequenzen. Einzig das Instrument seines rechtsstaatlichen Gewaltmonopols kommt zum Einsatz. Dialog, wenn überhaupt, ist nur nach bedingungsloser Kapitulation möglich. Nach einer ersten Strafverfolgungswelle, die knapp 1000 katalanische Mandatsträger und Beamten betrifft, bedroht der spanischer Generalstaatsanwalt weitere 50.000 bis 60.000 Bürger direkt mit der Einleitung von Ermittlungsverfahren, sollten diese zur Konstituierung der mehr als 2500 Wahllokale als ausgeloste Wahlvorstände, Beisitzer oder Nachrücker beitragen. Damit nicht genug verkündet die Generalstaatsanwaltschaft, dass auch die wählende Teilnahme am verbotenen Referendum rechtliche Konsequenzen haben könne und wählende Bürger sich auf erkennungsdienstliche Behandlung und Anzeigen gefasst machen müssten. Um diesen Warnungen Nachdruck zu verleihen, strengen madridtreue Politiker Verbote von Diskussions- und Solidaritätsveranstaltungen im Rest Spaniens an und erreichen groteske Einschränkungen der Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Die bedenkenlose Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Polizeikräften ist gesichert. Selbst die der autonomen katalanischen Polizei und der kommunalen Sicherheitskräfte steht inzwischen ausser Frage. Dieser Aufmarsch der Ordnungskräfte und Justizbehörden unter der Fahne der “Einheit der Demokraten” und die begleitende Vehemenz der Leitmedien beängstigt und soll es auch.
Bisher befeierte die katalanische Unabhängigkeitsbewegung jede Beschlagnahmung von Druckerzeugnissen, Anzeigen und Verboten als Beweis der Unterdrückung Kataloniens durch den spanischen Machtapparat und antwortet mit subversiven, teils phantasievollen Aktionen zivilen Ungehorsams. Mit zynischer Dramaturgie wird dieser zivile Ungehorsam zum Ausdruck der Verblendung und Indoktrination in den Leitmedien Spaniens umgedeutet. Wenn überhaupt dann hätte es ein Zuviel an Autonomie in zentralen Bereichen wie Bildung und Sprache gegeben. Dieses Zuviel sei über Jahrzehnte von den katalanischen Eliten für populistische Zwecke missbraucht worden, eine Auffassung, die auch im linksliberalen und protestbewegten Madrid anschlussfähig ist wie ein Manifest der vemeintlichen Creme de la Creme linken Kulturschaffens zeigt. Ohne substantielle Kritik konnte deshalb die spanische Regierung unter Umgehung der spanischen Verfassung die Autonomie Kataloniens de facto und sine die aufheben. Das Haushaltskonsolidierungs- und Stabilitätsgesetz dient dabei als perverse Grundlage, den kompletten Zahlungsverkehr der katalanischen Landesregierung zu intervenieren. Um etwaige Schlupflöcher zu vermeiden, werden darüberhinaus die Banken verpflichtet, verdächtige Zahlungen den spanischen Finanzbehörden zu melden. Private Dienstleister der katalanischen Regierung sollen zudem ihren Rechnungen eine Konformitätserklärung beifügen, aus der hervorgeht, dass die erbrachten Leistungen keinerlei separatistischen Zwecken dienen. Während Rajoy und seine Minderheitsregierung bereits gepanzerte Fahrzeuge der Armee für die militarisierte Polizei Guardia Civil einfordern und tausende Einsatzkräfte im spanischen Hinterland rekrutieren, wird auf der politischen Bühne Madrids von den Sozialdemokraten über die Verhältnismässigkeit einer Anwendung des Paragraphen 155 der spanischen Verfassung philosophiert, so als ob die Autonomie Kataloniens materiell noch für eine verfassungskonforme Aussetzung bestünde. Die spanische Sozialdemokratie könne diese nicht gewünschte Aussetzung gerade wegen ihrer Unterstützung aller Regierungsmassnahmen der Partido Popular abwenden. Voraussetzung sei allerdings, dass Katalonien bedingungslos auf sein eingebildetes Recht auf Selbstbestimmung verzichte und das Referendum annuliere, so die Botschaft. Dann könne ab dem 2. Oktober über alle anderen Autonomiefragen diskutiert werden, wie die Zustimmung der Partido Popular zum Vorschlag eines Runden Tisches zu territorialen Fragen zeige. Anderenfalls müsse Katalonien mit weitaus ungünstigeren Bedingungen rechnen. Die junge Protestpartei Podemos schlägt hingegen in Koalition mit den spanischen Kommunisten und Grünen, das utopische Delirium einer verfassungsgebenden Versammlung vor, um der spanischen PSOE plakativ in die Suppe zu spucken. Auch sie werden danach aller Voraussicht nach am Runden Tisch sitzen.
Dieses perfide politische Narrativ des guten und des bösen Polizisten mit Suppenkasper verkennt die katalanische Realität. Allen Rechenspielen Madrids und der Mehrheitsmedien zum Trotz gibt es in Katalonien eine aufgeklärte, soziologisch transversale und überzeugte Mehrheit für ein Referendum und auch die Chancen dieses zu gewinnen stehen günstig. Ein legitimiertes Referendum wie in Schottland oder Canada ist deswegen für das Madrider Establishment unter keinen Umständen akzeptabel: Mehr als 80% der Katalanen wünschen und verlangen ein Unabhängigkeitsreferendum und knapp 60% sehen auch das verbotenene Referendum als legitim an. Auch die parlamentarische Mehrheit der Unabhängigkeitsbefürworter im Parlament de Catalunya ist weitaus klarer als bemängelt: die Regierungsmehrheit stützt sich auf rund 48% der Wählerstimmen. In diametraler Opposition zu jeglichem Referendum wie auch jeder Form von Unabhängigkeit stehen Politiker, die zusammen knapp 42% der Wählerstimmen vertreten. Die restlichen 10% entfallen auf den katalanischen Ableger von Podemos, einem Bündnis von Grünen, Kommunisten und Protestbewegten, das in Urabstimmung mehrheitlich für ein Unabhängigkeitsreferendum entschieden hat. Dieses Bündnis hat sich bei der Annahme des Gesetzes zur Durchführung des Referendums enthalten, wird jedoch bewusst verfälschend in jedem Rechenspiel den Unabhängigkeitsgegnern global zugeschlagen, um eine nicht vorhandene Mehrheit im katalanischen Wahlvolk und im Parlament gegen Referendum und Unabhängigkeit zu beweisen. Auch unter den Wählern der auf Staatsräson getrimmten katalanischen Sozialdemokratie gibt es nach wie vor signifikative Unterstützung für ein Unabhängigkeitsreferendum sowie einen grossen Pool an Unabhängigkeitsbefürwortern.
Klar ist einzig, dass Katalonien und Spanien am 2. Oktober in einer veränderten demokratischen Landschaft erwachen werden, die vor allem in Madrid Verschiebungen in der Parteienlandschaft auslösen wird: Zu gross ist die Versuchung für die Regimeparteien Partido Popular, PSOE und Ciudadanos ihre überwältigende Parlamentsmehrheit für ein grossangelegtes Restaurationsprogramm des spanischen Zentralstaates zu nutzen, dass der Bevölkerung als notwendige Modernisierung verkauft werden wird. José Manuel García-Margallo, der ehemalige spanische Aussenminister der Partido Popular formuliert seine Vision für den von den Sozialdemokraten auf den Weg gebrachten “Runden Tisch zu territorialen Fragen” so: “Ab dem 2. Oktober müssen wir damit beginnen, die ersten Schritte für einen Prozess der Modernisierung Spaniens zu definieren.” Das Ergebniss des Runden Tisches muss als neue Verfassung von den Bürgern ganz Spaniens ratifiziert werden. Im Falle einer Ablehnung in Katalonien haben die Katalanen das Ergebnis für Gesamtspanien zu akzeptieren, wie Margallo mit unglaublichem Zynismus und unverblümter Warnung auch an die Unabhängigkeitsbewegung des Baskenlandes ausführt: “Das Verfassungsreferendum im Jahre 1978 habe schlieslich auch keine Mehrheit im Baskenland gehabt, gleichwohl jedoch die Weichen für die Lösung des baskischen Problems gestellt, das heute so gut gelöst ist wie nie, und niemand käme dort noch auf die Idee, die Legitimität der spanischen Verfassung in Frage zu stellen.” (Interview mit José Manuel García Margallo: “Es ist schlimmer, dem Rechtsstaat mit Ungehorsam entgegenzutreten, als Urnen zu konfiszieren”. El Periódico, 19/09/2017).
Das historische Beharrungsvermögen der Basken und Katalanen ist jedoch enorm und fraglich bleibt, ob dieses überhebliche Angebot des Friss oder Stirb von den restlichen 15 Autonomien Spaniens geschluckt wird. Nicht umsonst bezeichnet man die Spitzenpolitiker der Partido Popular und der Sozialisten in den Autonomien als Provinzfürsten und Barone, denen der Machterhalt und das eigene politische Überleben zumeist wichtiger sind als Parteidisziplin und Staatsräson.
Nachtrag: Heute, am 20. September erreicht der Konflikt die nächste Eskalationsstufe. In Barcelona und Madrid werden hohe Regierungsbeamte der katalanischen Regierung verhaftet. Hunderttausende Demonstranten versuchen die Durchsuchung von Ministerien und Parteisitzen zu boykottieren. Vor hunderten Rathäusern in ganz Katalonien protestieren Befürworter des Referendums. In den Häfen von Barcelona und Tarragona haben Passagierschiffe angelegt, die als schwimmende Kasernen für Einsatzkräfte aus dem Rest Spaniens dienen sollen. Auch wenn die Zentralregierung dies zurückweist, seit heute ist Spanien im nicht deklarierten Ausnahmezustand.
Spanische Märchenstunde

Foto: Pau Barrena/AFP/Getty Images
Kommentare 14
Separatisten
Die Katalanen werden von der EU und speziell von der deutschen Bundesregierung keine Unterstützung erwarten können, die haben wegen der Krim selbst eine ganze Menge selbst verursachter Leichen im Keller. Zu erwähnen sei noch, daß der Ministerpräsident von Spanien Mariano Rajoy sich nicht entblödete und den Katalanen erst einmal ein paar Millionen Stimmzettel klauen ließ.
Hier ein paar Stimmen aus den Medien:
Die Welt: Katalonien
Telepolis: Katalanen sind nicht allein, Druck auf Spanien wächst
Wikipedia: Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien 2017
Martin Schulz
«Sicherlich ist der Umgang der spanischen Sozialdemokratie mit der katalanischen Frage (und ihrer katalanischen Schwesterpartei PSC) mehr Symptom als Ursache, er bestätigt und verstärkt jedoch in den Augen vieler Wähler und Kritiker das Image des devoten Steigbügelhalters für erzkonservative und neoliberale Interessen, das Image des prinzipienlosen Windbeutels. »
Am Wochenende ist Bundestagswahl. Fragen wir doch mal den Kanzlerkandidaten Martin Schulz:
«Genosse, wie hältst du es mit den Katalanen?»
Ausnahmezustand oder kurz vor dem Bürgerkrieg?
«In den Häfen von Barcelona und Tarragona haben Passagierschiffe angelegt, die als schwimmende Kasernen für Einsatzkräfte aus dem Rest Spaniens dienen sollen. »
Die spanische Zentralregierung hat vor dem Referendum mobil gemacht.
Doch egal, wie dieser Konflikt ausgehen wird, er treibt sie Republik Spanien auseinander und die Regionen in den Separatismus. Wenn die Katalanen einen kühlen Kopf behalten, kann der Konflikt glimpflich ausgehen.
Die angemessene Antwort auf die Gewalt der spanischen Zentralregierung ist ein Generalstreik.
Es wird verdammt schwierig, den Anschluss der Krim an Russland zu kritisieren, sollte sich Katalonien tatsächlich abspalten. Noch glaube ich daran nicht, aber es gibt genug Leute, die dumm genug sind, die politischen Probleme tatsächlich 'in Madrid' zu verorten...danke für den Beitrag!
Die katalanischen Anarchisten fodern schon seit über 170 Jahren die Unabhängigkeit Kataloniens. Meines Erachtens hätte Rajoy die Durchführung des Referendums in Ruhe abwarten können. Ich bin mir ziemlich sicher, dass eine Mehrheit zwischen 53 und 59% für den Verbleib Kataloniens in Spanien herausgekommen wäre. Durch das brutale Vorgehen der Polizei in den letzten Tagen wurde unnötig böses Blut erzeugt, so dass nun am 1.Oktober doch eine Mehrheit für die Unabhängigkeit wahrscheinlicher wird.
Die hitzköpfigen "Gewinner" einer Abspaltung Kataloniens werden mit einem gehörigen Kater aufwachen: Wozu soll die katalanische Unabhängigkeit gut sein? Als erstes fliegt Katalonien dadurch im hohen Bogen aus der EU. Es wird sich ganz hinten anstellen müssen in der Schlange der Bewerber für eine EU-Mitgliedschaft, denn die EU wird solche kleinteiligen Abspaltungen in Europa nicht dulden.
Gegenüber "Rest-Spanien", dem größten Handelspartner Kataloniens, wird eine EU-Zollaußengrenze entstehen. Das wird zumindestens in den ersten Jahren der Unabhängigkeit einen Rückgang des Wohlstands in Katalonien bewirken. Wer soll dann da ein bedingungsloses Grundeinkommen fiananzieren?
Ich frage mich auch, wie rechtskonservative Unabhängigkeitsbefürworter und linke Unabhängigkeitsbefürworter in einem selbständigen Katalonien miteinander klar kommen werden? Vermutlich folgt dann eine Regierungskrise auf die andere.
>>…denn die EU wird solche kleinteiligen Abspaltungen in Europa nicht dulden.<<
Die Grösse ist kein Kriterium, sonstwäre das Groussherzogtum Lëtzebuerg kein EU-Mitglied.
Und Katalonien steht ökonomisch besser da als die osteuropäischen Mitglieder und Anwärter. (Das gölte ja auch für Bayern, nur dass die Bayernpartei nicht so viele Wähler hat)
Sie müssten halt sehr schnell provisorische Handelsabkommen bis zum Beitritt abschliessen können.
Dass nach einer Abspaltung das bis jetzt einige „rechts/links“-Bündnis explodieren würde sehe ich allerdings auch. Damit hätten sie vermutlich das grösste Problem.
Schön, dass die Ereignisse in Spanien Freitag-seitig (oder zumindest: Lesercommunity-seitig) nicht ganz untergehen ;-). Nun gleich zwei Ergebnisse, die sich sehen lassen können: Parallel zu diesem Beitrag habe auch ich einen Artikel geschrieben, der sich speziell mit der Merkel-seitigen Parteinahme für die konservative Rajoy-Regierung befasst.
Das Großherzogtum Luxemburg ist schon seit Jahrhunderten ein souveräner Staat und war Gründungsmitglied der EU und nicht eine Abspaltung von etwas Größerem.
Katalonien steht zwar finanziell gut da, aber die EU wird es mit ihrem begeisterten Mitglied Spanien nicht verderben wollen und daher die Abspaltung Kataloniens nicht auch noch durch Vorzugskonditionen für Katalonien belohnen. Außerdem hat die EU kein Interesse, dass weitere Mitglieder auseinanderfallen, z.B. Belgien oder Italien. In so einem Fall müssten ja auch zusätzliche EU Kommissarstellen geschaffen werden. Die EU Kommission hat nicht gerade auf einen katalonischen oder flämischen Kommissar gewartet.
Spanien hat ja gerade von der EU Vetorechte bezüglich Gibraltar zugestanden bekommen für die Brexit Verhandlungen.
Spanien war und ist der größte Netto-Empfänger von Subventionen der EU. Da wird auch einiges in Katalonien hängen geblieben sein. Das Geld wird Katalonien erst mal fehlen, bis das Land selbst ein Vollmitglied ist.
Es ist schade, dass die spanischen und katalanischen Sozialdemokraten gegenwärtig so tief in der Falle des Neoliberalismus sitzen. Sonst hätten sich die Geschehnisse in Spanien „vielleicht“ anders ereignet. Außerdem, in unmittelbare Beziehung auf den Artikel des Freitags, möchte ich als Katalane noch hinzufügen, die immer größere Ablehnung gegenüber der Korruption und der Vetternwirtschaft (der PP Partei, wenn überhaupt), die es unter einer Mehrheit des katalanischen Volkes derzeit herrscht.
Agradeixo molt la resposta de gent de Catalunya. A Europa falta la resposta, la presència de la diversidad.
Vielen Dank @rimblas für Ihren Kommentar. Der freut mich mehr sehr.
Agradeixo molt la resposta de gent de Catalunya. A Europa falta la resposta, la presència de la diversidad.
Vielen Dank @rimblas für Ihren Kommentar. Der freut mich mehr sehr.
>>…aber die EU wird es mit ihrem begeisterten Mitglied Spanien nicht verderben wollen…<<
So gesehen sind die Schotten natürlich im Vorteil. Aber das heisst ja nicht, dass man in Katalonien Madrider Interessen bedienen wollen muss.
Ab- und Aufspaltungen von Staaten werden in der EU durchaus akzeptiert, siehe jugoslawische Spaltprodukte oder Tschechien/Slowakei.
Es geht also wieder mal um die altbekannte Machtfrage. Und damit um die Frage: „Sollen sich die Katalanen der spanischen Zentralmacht und einigen Leuten in Brüssel unterordnen = kein Konflikt, oder können sie die Machtfrage für sich entscheiden = konflikthafter Verlauf. Und daran anschliessend die Frage: „Würde die EU auf einen potentiellen Bruttozahler Katalonien verzichten, wenn die Abspaltung vollzogen wäre oder nicht?“
>>Die EU Kommission hat nicht gerade auf einen katalonischen oder flämischen Kommissar gewartet.<<
Schon klar. Eher warten sie sie auf den schottischen Kommissar ;-)
Wenn du dir die Europäischen Separatisten anschaust, stellst du fest, daß sehr viele sich friedlich mit ihrem Umfeld geeinigt haben.
Die spanischen Verhältnisse sind weitgehend vom Frankismus geprägt und von der Repression, die daraus erwachsen ist. Darum verwundert nicht, daß Rajoy so militant reagiert. Statt sich den Bürgerkrieg von Rajoy aufzwingen zu lassen, ist der bessere Weg für die Katalanen der Generalstreik und politischer Ungehorsam gegen die spanischen Ämter.
Mit dem historischen Fernrohr haben die Katalanen alles Recht auf politische Unabhängigkeit.
Spurensuche:
Es gibt im Grunde keine einheitliche spanische Nation. In der Antike übernahmen die Völker der iberischen Halbinsel - bis auf die Basken - die lateinische Sprache der Römer, woraus sich das Portugiesische, Kastilische, Katalanische usw. entwickelt haben. Die Katalanen haben eine eigene Sprache und es ist eine fast 2000-jährige Geschichte ihres Volkes erzählbar. Sie sind ein ethnologischer Faktor, der unter die Fuchtel Madrids geraten, ist als Kastilien, die stärkste Macht der iberischen Halbinsel, im Spätmittelalter begann, seinen Einfluß auszudehnen und auf verschiedenen Wegen die Krone umliegender Staaten zu übernehmen, eine als "hispanisch" getarnte Machtpolitik unter Verweis auf die römische Provinz Hispania und das römische Christentum, das die gesamte Halbinsel in der Spätantike übernommen hatte und das alle "Spanier" verbindet. Die Katalanen hatten Pech. Anders als beispielsweise die Portugiesen, die ihre Unabhängigkeit in mehreren großen Schlachten gegen Kastilien wiederherstellen konnten, ist Katalonien seit Jahrhunderten spanische Provinz geblieben. Weil es die wirtschaftsstärkste Region der Halbinsel war und ist und als Hafenstadt im Mittelmeerraum weitvernetzt, war es liberaler als das stockkatholische Kastilien. Das spielt bis heute eine Rolle. Denn infolgedessen war Katalonien im 20. Jahrhundert, als die Ideologien in Europa hart aufeinanderprallten und sich in Kastilien auf die Revolutionsrufe die Reaktion in Form des Klerikalfaschismus der Falange erhob, eine Hochburg der Linken. Einfach weil sie nicht so sein wollten wie Madrid und das in einer Hafenstadt naheliegender ist als in ländlichen Regionen des Hinterlandes. Nach dem Sieg der Rechten rächte die Falange sich an Katalonien. Bisherige Autonomiestatute wurde beschnitten, die kastilische Sprache verboten und die Provinz politisch kaltgestellt und ferngesteuert. Das spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle in diesen Tagen, wo sich Europa erneut die Nachfolger der beiden Lager gegenüberstehen, denn in Madrid regiert mit der Partido Popular die Postfaschisten, die als spanisch-madrilenische Nationalisten für Unabhängigkeitsbestrebungen in Provinzen, die sie als integralen Bestandteil der spanischen Nation sehen, nichts und bei den Katalanen - auch wenn der der katalanische Nationalismus keineswegs flächendeckend links ist - gar nichts übrig haben.
Die Rückendeckung der EU und der meisten europäischen Regierungen, auch der deutschen, für die Regierung in Madrid, der das Verhindern der Abstimmungen in Barcelona heute bereits 400 Verletzte wert war, liegt indes weniger in den Parteilichkeiten spanisch-iberischer Geschichte begründet, als schlicht daran, dass die EU Gebiet verlieren würde, weil Abspaltungen von bestehenden Mitgliedsstaaten (siehe auch Schottland) die EU erst einmal verlassen. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ernst zu nehmen hieße also für die EU, sich aufzulösen, weil dann die Basken, Galicier, Bretonen, Waliser usw. die nächsten Wären. Kritiker würden nicht zu Unrecht einwenden, dass man daran den Sowjetcharakter der EU erkennt, der nur Menschheit denken kann, aber keine nationalen Eigenheiten. Diese stehen den Katalanen aber zu. Es spielt völkerrechtlich auch keine Rolle, dass die Sezession nach den Gesetzen so ziemlich jedes Staates dieser Erde illegal ist. Wenn Tibet es eines Tages schafft, von China unabhängig zu werden, dass es nicht durch Heiratspolitik und Druck nach und nach übernahm (wie die Kastilische Machtpolitik), sondern es schlicht militärisch besetzte. Dass Tibet unabhängigkeit nach rotchinesischem Recht illegal ist, steht der Legitimität von Tibets Unabhängigkeit völkerrechtlich nicht im Wege. Es ist kein Argument gegen das Referendum in Katalonien, dass das Verfassungsgericht in Madrid - natürlich, was denn auch sonst? - "illegal" ruft. Auf der Ebene der spanischen Nation stimmt das natürlich. Die Frage ist, ob diese einer ethnologischen Prüfung standhält. Die lange Geschichte Kataloniens spricht dagegen. Die Katalanen sind ein Volk und haben - auch nach Jahrhunderten Zugehörigkeit zu "Spanien" das Recht auf nationale Selbstbestimmung.
Eigenartig ist natürlich die Sympathie für Katalonien auf Seiten Deutscher, von denen gelegentlich zu hören ist, dass Völker, Ethnien und Nationen Phantasiebegriffe seien. Dass das nicht stimmt, lässt sich in Barcelona blutig besichtigen.