Warum Maren von ihrem wohlmeinenden Vater abends zum Schlafen ins Zimmer eingesperrt wird, leuchtet nach ein paar Minuten ein. Übers Fenster schafft es die Jugendliche, auszubüxen, im Dunkeln schleicht sie zur Pyjamaparty im Haus einer Mitschülerin. Noch ein paar andere Mädchen sind da, sie lachen und plaudern, Maren ist ganz auf die Gastgeberin fixiert. Als die ihr, eng neben ihr auf dem Boden liegend, stolz die Hand mit den gerade frisch lackierten Fingernägeln vor die Nase hält, beißt Maren plötzlich beherzt zu und nagt einen Finger ab bis auf die Knochen.
Regisseur Luca Guadagnino lässt von Anfang an keinen Zweifel daran, dass sein romantisches Roadmovie über junge Außenseiter keine gewöhnliche Liebesgeschichte erzählt. Ma
28;hlt. Maren (Taylor Russell) ist eine „Esserin“, eine Kannibalin, sie hungert nach Menschenfleisch. Ein Verlangen und eine Veranlagung, womöglich vererbt von der Mutter, die sie nie gekannt hat. Die Jugendliche entdeckt gerade erst ihre angeborene Natur, die sich noch unkontrolliert Bahn bricht. Manchmal verspürt sie so eine Fleischeslust, dass sie kaum weiß, wohin mit sich selbst. Ihr Vater (André Holland) hat sie lange beschützt, bereits als Kleinkind hatte sie die Babysitterin attackiert, aber nun hat er keine Kraft mehr. Als sie 18 wird, macht er sich aus dem Staub und lässt nur eine Tonbandaufnahme mit einem Erklärungsversuch zurück.Allein macht sich die junge Frau auf die Suche nach der Mutter, nach Antworten und der eigenen Identität. Auf ihrer Reise entdeckt sie bald, dass sie nicht die Einzige ist. Der kauzige Sully (Mark Rylance, mit Federhut und manch anderer beängstigender Exzentrik) etwa kann sie schon meilenweit riechen. Auch er ist ein „Esser“, aber einer mit Erfahrung und Ethik, der Maren beibringt, wie sie ihren Hunger stillt, ohne töten zu müssen. Vor allem aber begegnet sie in einem Supermarkt in der tiefsten Provinz Lee (Timothée Chalamet), einem jungen Rumtreiber. Erst in ihm erkennt sie einen Seelenverwandten, mit dem sie mehr verbindet als nur Fleischeslust, der ihr hilft, ihre Einsamkeit und Verzweiflung zu überwinden. Hier beginnt eine dramatische Jugendromanze, die aus weit mehr als Herzschmerz und ein bisschen Haut besteht. Liebe und Tod, Eros und Thanatos.Beste NachwuchsdarstellerinIn Venedig, wo der Film im September Weltpremiere feierte, erhielt die fantastische Taylor Russell den Marcello-Mastroianni-Preis als bester Schauspielnachwuchs. Guadagnino wurde als bester Regisseur ausgezeichnet. Basierend auf dem gleichnamigen Roman der US-Autorin Camille DeAngelis inszeniert er das Erwachen einer jungen Frau, die mit ihrer Andersartigkeit hadert und dabei auf einen Gleichgesinnten trifft, mit dem kurz so etwas wie Glück möglich scheint. Er erzählt die Sinnsuche als Roadmovie durch den Mittleren Westen der Reagan-Ära der 1980er, mit Anleihen bei Arthur Penns Bonnie und Clyde, Terrence Malicks Badlands und Gus Van Sants My Private Idaho ebenso wie beim Splattergenre. Es fließt viel Blut aus offenem Fleisch, wobei kein Moment gruseliger ist als der, in dem Sully geduldig auf die letzten Atemzüge einer alten Frau wartet, bevor er sich an ihr laben kann.Eingebetteter MedieninhaltAn Schockmomenten ist der Regisseur dabei weniger interessiert; er nutzt den Kannibalismus als Metapher für das jugendliche Gefühl, Außenseiter zu sein und zugleich mühsam lernen zu müssen, mit dem Überschwang des eigenen Innenlebens umzugehen. We Are Who We Are hieß die Miniserie über queere Jugendliche auf einem US-Militärstützpunkt an der italienischen Küste, die Guadagnino zuletzt inszeniert hatte. Aus dem selbstbewusst vorgetragenen „Wir sind, wer wir sind“ ist nun ein „Sie isst, was sie ist“ geworden. Hier wie da erzählt der 51-jährige Italiener sehr empathisch und auf Augenhöhe vom Aufruhr und vom inneren und äußeren Chaos beim Übertritt in das, was das Erwachsenenleben sein soll. Auch in Call Me by Your Name über eine schwule Sommerliebe im Italien der 1980er, ebenfalls mit dem damals aber noch kaum bekannten Timothée Chalamet, ging es darum. Bei Bones and All geht Guadagnino weiter, taucht in Genre-Abgründe ein wie zuletzt in seinem im Mauerzeit-Berlin angesiedelten Suspiria-Remake, um die Erfahrungswelt einer verlorenen Generation zu beleuchten, die ihre Jugend verschwendet – „Wir gegen den Rest der Welt“ – und sich Transgressionen hingibt, die für sie Lust und Qual zugleich sind. Damit kratzt er nah an übernatürlichen Jugenderzählungen wie den Twilight-Filmen oder Joss Whedons Buffy – Im Bann der Dämonen entlang, die das Aufregende und Angstmachende der Adoleszenz in Vampirgeschichten verpackten.Vor großen Emotionen scheut Guadagnino dabei nicht zurück. Er findet in berückenden Bildern immer wieder das Schöne im Hässlichen, untermalt vom brachialen Score von Trent Reznor und Atticus Ross. Doch Bones and All ist mehr als das, der von Guadagninos regelmäßigem Drehbuchautor David Kajganich adaptierte Film wirft scheinbar im Vorbeifahren einen Blick in eine Ära und in Gegenden der USA, die im Kino sonst kaum vorkommen, Bundesstaaten wie Ohio, Kentucky und Minnesota, viele abgeschnitten von Fortschritt und Wohlstand. Der „Reagan/Bush ’84“-Sticker auf der Stoßstange des Pick-up-Trucks weist den Weg der bleiernen Jahre einer erzkonservativen Regierung, von Gier und Paranoia ebenso geprägt wie vom Hass auf alles Andersartige. Und damit gar nicht so weit entfernt von unserer Gegenwart.Placeholder infobox-1