Das A – Z der Alltagsgewalt

Film Radu Judes Berlinale-Gewinner „Bad Luck Banging or Loony Porn“ ist ein zum Brüllen komisches Tryptichon
Ausgabe 28/2021

Wie Radu Jude zuerst bei der Berlinale im März mit einer unvermittelten Heimpornoszene hereinplatzte, damit die verstreut zu Hause auf ihre Bildschirme starrende Kritikerschaft aufschreckte und mit seiner irrsinnig fies-unterhaltsamen Gesellschaftssatire Bad Luck Banging or Loony Porn dann auch noch den Goldenen Bären für den besten Wettbewerbsbeitrag abräumte – das ist weit mehr als ein Kuriosum. Das schnell und dreckig produzierte Werk hat einen Nerv getroffen: bei der Jury, die es auszeichnete, aber auch bei der Kritik. Nun läuft der Film, nach einer „physischen“ Premiere auf der Sommerberlinale im Juni, endlich auch regulär im Kino.

Das Paar, das sich in seinem Privatvideo so leidenschaftlich ins Zeug legt, entpuppt sich als Gymnasiallehrerin Emi (Katia Pascariu) und deren Mann, der Clip landet versehentlich im Internet und macht dort schnell die Runde. Auch innerhalb der Elternschaft an der Schule, die das Werk oft nur vom Hörensagen kennt, sich aber umso brüsker über das Privatvergnügen echauffiert und als Konsequenz die Suspendierung der Lehrerin fordert.

Der shock value,den sich der rumänischen Filmemacher ziemlich eins zu eins von John Waters in Pink Flamingos (1972) abgeschaut hat, nutzt sich freilich etwas ab, wenn man von den Aufreger-Momenten weiß, aber das macht auch nur ein Quäntchen des Vergnügens aus. Beim Sextape trägt der Ehemann eine venezianische Maske, die Frau eine pinkfarbene Plastikperücke, kurz kommt es zum Interruptus, als die alte Nachbarin sich von draußen beschwert, die Tochter habe sich die Hände nicht desinfiziert. Man ahnt schon in diesem Epilog: Hier werden Geschmacksgrenzen lustvoll in die Tonne getreten, die nächsten gut 100 Minuten werden ein wilder Ritt.

Jude baut seinen Film als auf den ersten Blick disparates Tryptichon auf. Im ersten Teil folgt er Emi durch die Straßen Bukarests, sie telefoniert hektisch mit ihrem Mann, der verzweifelt versucht, die Datei aus dem Netz zu bekommen, die fahrige Handkamera von Marius Panduru schweift immer wieder von ihr ab, zeigt im Cinéma-Verité-Stil eingefangene Bilder eines Molochs voller Obszönitäten, sexistischer Werbung an Hausfassaden und dauergereizter Passanten, die sich gegenseitig ankeifen. Die Pandemie mit ihrer Maskenpflicht lässt die Situation noch surrealer erscheinen. Im Mittelteil liefert Jude eine Art Bilderlexikon, in dem er alphabetisch Begriffe aufführt, die sehr überspitzt ein Panoptikum Rumäniens aufblättern, von misogynen Blondinenwitzen über kapitalistische Ausbeutung bis hin zur Verfolgung von Juden und Roma während des Zweiten Weltkriegs. Ein überbordender, bewusst überfordernder Reigen einer nicht mehr zu fassenden Welt. Gewalt in allen möglichen Ausformungen deformiert die Gesellschaft, nicht nur in Rumänien.

Im dritten Teil schließlich kommt es zum Tribunal der aufgebrachten Eltern gegen Emi, pandemiebedingt im Freien mit Hygieneregeln. Wie im Zerrspiegel des aufgeheizten Internetdiskurses mit anonymen Hassparolen und abstrusen Verschwörungstheorien muss sich Emi von maskierten Biedermännern und -frauen als Schlampe und Propagandistin beschimpfen lassen, das Video wird gegen ihren Willen allen vorgespielt. Die Angeklagte versucht souverän ihr Recht auf Privatsphäre zu verteidigen, aber wie soll sie, sollen wir alle, mit Vernunft noch ankommen in einer Gesellschaft, die nicht bloß gespalten ist, sondern zunehmend durchgeknallt? Dafür hat Jude am Ende seines virulenten Zeitbilds nicht eine Antwort, sondern gleich drei. Statt zu verzweifeln, kann man die Scheinheiligkeit auch mit den Mitteln der Satire demaskieren und lächerlich machen. Zum Brüllen komisch ist es allemal.

Info

Bad Luck Banging or Loony Porn Radu Jude Rumänien 2021, 106 Minuten

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Geschrieben von

Thomas Abeltshauser

Freier Autor und Filmjournalist

Thomas Abeltshauser

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