„Ich bin selbst ein bionisches Wesen“: David Cronenberg trotzt dem Scheinwerferlicht von Cannes an der Seite von Léa Seydoux
Foto: Pascal Le Segretain/Getty Image
Nach acht Jahren Kinopause kehrt Regisseur David Cronenberg mit dem dystopischen Film Crimes of the Future um einen mutierenden Künstler zu seinen Wurzeln und dem Körperhorror seiner früheren Filme zurück. In einer nicht näher definierten Zukunft hat die Menschheit durch medizinischen und technologischen Fortschritt Krankheit und Schmerz überwunden. Der Performancekünstler Saul Tenser (Viggo Mortensen) und seine Partnerin Caprice (Léa Seydoux) sind Teil einer illegalen Subkultur, die sich lustvoll körperlichen Modifikationen und aufsehenerregenden Amputationen widmet. Vor Publikum lässt sich Tenser nachwachsende Organe von Caprice herausoperieren und von den Fans bestaunen. Ein radikaler, komplexer Film, der sich mittels tiefschwarzer Ironi
warzer Ironie mit Körperkult und menschlicher Anpassung angesichts zunehmender Umweltverschmutzung auseinandersetzt. Der kanadische Filmemacher, 79 Jahre alt, ist damit seiner Zeit noch immer weit voraus.der Freitag: Herr Cronenberg, Sie hatten das Drehbuch bereits 1998 geschrieben. Inwieweit hat sich die ursprüngliche Idee von damals verändert? Wie sehr haben Sie sich selbst in den vergangenen 20 Jahren verändert?David Cronenberg: Nun, ich bin signifikant älter geworden. Aber das Drehbuch selbst funktionierte noch immer erstaunlich gut, auch mit dem Wandel der Welt. Aber natürlich verändert sich ein Film in gewisser Weise, wenn man die Schauspieler besetzt, die Drehorte findet. Ich hatte ihn eigentlich für meine Heimatstadt Toronto geschrieben. Gedreht haben wir schließlich im Sommer in Athen. Wir waren gezwungen, den Film visuell zu überdenken.Wie haben Sie diese dystopisch anmutende Welt in Athen erschaffen?Das war einfacher als gedacht. Wir wollten erkunden, was die Stadt uns zu bieten hat, anstatt uns dagegen zu wehren und zu versuchen, das Gefühl einer nordamerikanischen Stadt zu vermitteln. Vieles ist so geblieben, wie wir es vorfanden, die Graffiti an den Häuserwänden, die Betonruinen, das halb gesunkene Schiff am Strand. Athen hat zu uns gesprochen und wir haben zugehört.Warum hat es so lange gedauert, bis Sie den Stoff schließlich verfilmten?Ursprünglich waren Produzenten und ein Studio in Hollywood beteiligt. Als das Drehbuch fertig war, waren sie nicht zufrieden damit und wollten den Film nicht machen. Dann kam der kanadische Produzent Robert Lantos ins Spiel, aber zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mit A History of Violence beschäftigt, sodass ich den Film nicht machen konnte. Der Film ist dann irgendwie versickert und ich hatte das Drehbuch vergessen, bis mich Robert Lantos Jahre später daran erinnerte. Ich wollte es erst gar nicht zur Hand nehmen, dachte, es wäre längst irrelevant.Nach Ihren letzten Filmen, die eher psychologische Thriller waren, ist „Crimes of the Future“ eine Rückkehr zu den Themen Ihrer Anfänge, zum Horrorgenre und zur Reflexion über die Grenzen zwischen Körper und Technologie etwa. Warum?Man kann Verbindungen zwischen Crimes of the Future und früheren Filmen sehen wie Videodrome, in dem Körper mit VHS-Rekordern verschmelzen, oder mit eXistenZ, in dem Player ihr Nervensystem mithilfe eines Bioports direkt an ein virtuelles Game anschließen. Das stört mich auch gar nicht, das ist legitim. Sie alle entspringen meiner Sensibilität, und ich denke, dass die Verbindungen, die ich darin zwischen dem menschlichen Körper und seiner Entwicklung im Zusammenhang mit Technologie hergestellt habe, immer noch gültig sind.Es geht nun auch um die Zerstörung der Umwelt und der Menschheit und darum, wie die Kunst dies widerspiegeln kann. Sehen Sie Ihre Filme als Mittel, um zum Nachdenken anzuregen?Es ist nicht so, dass ich eine Botschaft an die Welt habe. Wenn ich Filme mache, ist das so, als würde ich dem Publikum sagen, dass ich diese Dinge interessant finde, vielleicht sind sie beunruhigend oder einfach nur amüsant. Ich versuche, nicht zu manipulieren, ich erschaffe Geschichten und Welten, um etwas über mich und mein Verhältnis zur Welt herauszufinden. Und ich lade es ein, mich bei diesem Untersuchen und Analysieren zu begleiten und dann eigene Schlüsse zu ziehen. Mich interessiert etwa die Frage, wie sich unsere Körper an Umwelteinflüsse anpassen und durch technologischen Fortschritt modifiziert werden. Wenn im Film Menschen in der Lage sind, sich von Plastik zu ernähren, ist das ein Gedankenspiel, das auf Forschungsexperimenten basiert. Es gibt Bakterien, die in der Lage sind, Plastik zu verdauen. Das spinne ich weiter. Aber ich sage nicht, was wir tun oder lassen müssen, um die Welt zu retten. Persönlich habe ich aber meine Zweifel, dass wir das noch in den Griff kriegen. Der Mensch scheint einen Impuls zur Zerstörung zu haben.Ihre Filme erweisen sich dabei immer wieder als prophetisch, fast wie Zukunftsprognosen.Die Verbindung von Mensch und Maschine ist längst Realität. Ich habe ein Hörgerät und vor Kurzem hatte ich eine Augenoperation wegen Grauen Stars, bei der meine Augenlinsen, mit denen ich über 75 Jahre die Welt gesehen habe, ersetzt wurden. Ich bin also selbst ein technologisch erweiterter Mensch, ein bionisches Wesen. Aber ich bin weder Prophet, Prediger noch Politiker. Vielleicht habe ich als Künstler Sensoren, mit denen ich Schwingungen aufnehme und auf sie reagiere, weil ich sie verstörend oder faszinierend finde. Und manchmal sieht das später wie eine Voraussagung aus. Aber das ist nicht mein Anspruch.Eingebetteter MedieninhaltApropos Kunst: Viggo Mortensens Figur Saul gibt auf der Bühne buchstäblich ihr Innerstes preis. Ein verstörendes Bild dafür, sich als Künstler der Öffentlichkeit gegenüber verletzlich zu machen. Wie viel von Ihnen steckt in dieser Figur?Emotional sehr viel, auch wenn es sehr extrem ist. Als Künstler macht man sich verletzlich, weil man seine innersten Gedanken zum Ausdruck bringt, die die meisten Menschen vielleicht nicht ausdrücken oder geheim halten oder sich dessen nicht einmal bewusst sind. Als Künstler drücke diese Dinge aus, spiele mit ihnen in Form von Figuren und Erzählstrukturen. Auch, um mich selbst emotional und intellektuell zu verstehen.Muss Kunst kriminell sein?Zumindest plädiere ich dafür. Für Freud ist Zivilisation Unterdrückung. Wir unterdrücken Impulse, um als Gesellschaft halbwegs friedlich zusammenzuleben. Und das Kino erkundet das Versteckte und Verbotene, das wir nicht ausleben, aber dennoch verstehen wollen. Darin liegt die Faszination des Kinos, und das kommt auch in meinen Filmen zum Ausdruck.Wie herausfordernd war es, den Film während der Pandemie zu drehen?Ich war anfangs sehr besorgt darüber, wie schwierig Dreharbeiten mit all den Einschränkungen sein würden. Ich hatte dann als Schauspieler in der Serie Slasher vor der Kamera gestanden, meine erste Erfahrung an einem Set mit Covid-Maßnahmen.Vergangenes Jahr spielten Sie in der vierten Staffel der Horrorserie einen tyrannischen Patriarchen, der seine Familie auf eine Privatinsel beordert, um die Nachfolge nach seinem Ableben zu bestimmen.Und obwohl der Dreh mit Masken und Tests unangenehm und irritierend war, habe ich gesehen, dass es tatsächlich möglich ist, sicher zu arbeiten. Es kostet mehr Geld und es verlangsamt die Dinge ein wenig, aber es geht gut. Und es war absolut notwendig: Wenn jemand wie ich oder einer der Hauptdarsteller krank geworden wäre, hätten wir den Film nicht fertigstellen können.Könnte die Pandemie Thema eines David-Cronenberg-Films sein?Ich finde, das habe ich mit Shivers – Parasiten-Mörder und Rabid – Der brüllende Tod in den 1970er Jahren bereits getan. Da muss ich nicht noch einen machen.Im letztem Jahr haben Sie außerdem einen Kurzfilm überIhren eigenen Tod gedreht. Damit haben Sie uns ganz schön erschreckt.Ich würde jedem empfehlen, sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinanderzusetzen, sich über das ein oder andere klar zu werden. Ich selbst bin nicht religiös und durch und durch Atheist. Aber auch die meisten Religionen und Philosophien fordern dazu auf, sich über den Tod Gedanken zu machen. Ich tue das mit meinen Filmen. In Death of David Cronenberg liege ich mit meiner eigenen Leiche im Bett. Aber ich habe damit nicht versucht zu schockieren, das interessiert mich nicht. Es wäre so einfach, aber es hat für mich keinen künstlerischen Wert.Im September haben Sie beim Filmfestival von San Sebastian den Preis für Ihr Lebenswerk erhalten. Ein Moment, um auf die Karriere zurückzublicken?Ich habe mich immer für den Einsatz von Technologie interessiert, auch der digitalen. Ich experimentiere damit, Teile von Crimes of the Future habe ich mit einem iPhone gedreht. Es ist so viel einfacher als zu Beginn meiner Laufbahn. Als ich in den 1960er Jahren anfing, waren die Undergroundfilmer in New York meine Vorbilder, weil sie bewiesen, dass man nicht Teil des Hollywoodsystems sein muss, um Filme zu machen. Man konnte sich eine Kamera mieten und loslegen. Mit der Technologie heute ist es noch einfacher geworden.Jetzt einen solchen Preis zu bekommen, ist natürlich eine schöne Anerkennung, aber es bedeutet hoffentlich nicht, dass ich aufhören sollte, Filme zu machen. Ich sehe es weniger als eine Auszeichnung für das, was ich getan habe, als vielmehr eine Ermutigung für die Zukunft. „Mach weiter, wir mögen, was du tust. Wir sind gespannt, womit du als Nächstes kommst.“ So interpretiere ich die Auszeichnung.Wir müssen also nicht wieder acht Jahre auf Ihren nächsten Film warten?Es gab eine Zeit, da dachte ich tatsächlich ans Aufhören. Ich war weiter kreativ, habe einen Roman geschrieben. Aber den Beruf des Regisseurs hatte ich an den Nagel gehängt, ich wollte als Schriftsteller arbeiten. In gewisser Weise ist es einfacher, Bücher zu schreiben, weil man auf sich allein gestellt ist. Schon als Junge wollte ich Schriftsteller werden, wie mein Vater. Es hat dann ein halbes Jahrhundert gedauert, bis es so weit war. Ich war vom Kino gekidnappt worden. Und in Wirklichkeit bin ich immer noch Filmemacher.Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1
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