Eine Frau mit Fliegerhaube und übergroßem Regenmantel steht vor einem Schaufenster mit Fernsehern, auf denen die Bilder in Sekundenbruchteilen wechseln und kaum zu entziffern sind. „Remember Earth Clearly“ steht da womöglich, Szenen der Verwüstung sind zu sehen. Die Frau betrachtet sie wie Botschaften aus einem anderen Universum – und tatsächlich ist sie ein Alien, ein Wesen, das vom Himmel fiel, wie einst David Bowie. Sie landet in einem aschgrauen Niemandsland am Ufer der mit Müll verdreckten Themse und studiert nun verwundert diese kaputte Welt und das Treiben der Menschen. Alles um sie herum passiert hyperbeschleunigt, wie im Zeitraffer, während sie sich langsam durch die von Müll und Berufsverkehr verstopften Straßen Londo
Tilda Swinton: Der Blick von draußen
Retrospektive Der Streamingdienst Mubi zeigt eine kleine Reihe von frühen und unbekannteren Auftritten der großen, mysteriösen Schauspielerin Tilda Swinton. Das macht Lust auf schräge Welten
ndons manövriert, zunehmend resigniert, bis sie buchstäblich verschwindet, womöglich an einen schöneren Ort.Eingebetteter MedieninhaltTilda Swinton spielt diese Frau, und der Kurzfilm The Box aus dem Jahr 1996 ist Teil einer kleinen Retrospektive, die der Streamingdienst Mubi mit frühen und weniger bekannten Auftritten der schottischen Schauspielerin kuratiert hat. Das vier Minuten und 15 Sekunden kurze Musikvideo zum gleichnamigen Track des Electro-Projekts Orbital wurde von Jes Benstock und Luke Losey als experimenteller Stop-Motion inszeniert und erscheint selbst im eklektischen Werk Swintons eher als ein Kuriosum. Nur noch ein weiteres Mal hat Swinton seitdem an einem Musikclip mitgewirkt, in David Bowies The Stars (Are Out Tonight).Dabei lassen sich auf den zweiten Blick durchaus Parallelen zwischen den Filmen der Reihe finden. Swinton verkörpert oft Figuren, die sich in fremden Welten bewegen, offen und neugierig Entdeckungen machen und sich mit ihren Eigenarten an den Verhältnissen reiben. Eine sehenswerte Entdeckung und selbst für eingefleischte Tilda-Fans eine seltene Gelegenheit ist dabei der allererste Leinwandauftritt von Swinton in Joanna Hoggs Caprice 1986, im selben Jahr, in dem sie auch für Christoph Schlingensiefs Egomania – Insel ohne Hoffnung vor der Kamera stand und gleichzeitig in Caravaggio ihre langjährige Kollaboration mit Derek Jarman begann.Doch vor den beiden exzentrischen Männern war es eine Regisseurin, die Tilda Swinton als Filmschauspielerin entdeckte. Hogg besetzte sie in ihrem satirisch-feministischen Fantasykurzfilm Caprice als Lucky, die begeisterte junge Leserin einer Modezeitschrift ist und sich unversehens selbst auf diesen real gewordenen Hochglanzseiten wiederfindet. Eine Art Alice im Wunderland oder Der Zauberer von Oz, die Geschichte eines Mädchens, das sich in eine Parallelwelt träumt, die aufregender und bunter erscheint als die Realität. Und bald zum Albtraum wird.Als Tilda Swinton noch Matilda warIm Abspann taucht die damals 26-Jährige noch als Matilda Swinton auf, der Langversion ihres zweiten Vornamens, den ersten, Katherine, hat sie da bereits abgelegt. So mädchenhaft sie mit ihrer feuerroten Lockenmähne in manchen Momenten wirkt, fernab der späteren Ikone, die ihr Image als abgeklärtes Fabelwesen souverän inszeniert, ist schon bei dieser ersten Rolle erkennbar, wie außergewöhnlich und wie anders als andere Schauspielerinnen diese Newcomerin ist. Das gelingt ihr hier noch ganz ohne die Perücken, Prothesen oder Kostüme, die viele der bislang knapp 100 Auftritte ihrer Karriere später prägen werden, ob in Die Chroniken von Narnia, Snowpiercer oder kürzlich in The French Dispatch. Bis heute: Selbst in dem nächsten Monat startenden Märchen-Kammerspiel Three Thousand Years of Longing von George Miller steckt sie als alleinstehende Akademikerin in einer schrulligen Verkleidung mit Pagenfrisur und dicker Brille.So chamäleonartig sich Tilda Swinton in unzählige, auf jeweils unterschiedliche Art und Weise exzentrische Charaktere verwandeln kann, gibt es doch zwei Filme in der Mubi-Reihe, in denen sie ganz bei sich wirkt, fast so, als ob sie gar nicht als fiktive Figur auftrete, sondern als Tilda Swinton selbst oder zumindest als eine Version davon. In Cycling the Frame fuhr sie 1988 mit dem Fahrrad die Berliner Mauer ab, gefilmt von der Regisseurin Cynthia Beatt. Der Film zeigt, wie sie die Grenze aus Westberliner Perspektive erkundet, während sie die eingesperrte Stadt von innen umkreist. Sie klettert auf Aussichtsplattformen und schaut in den Osten rüber, argwöhnisch beäugt von Grenzsoldaten.2009, 21 Jahre später, wiederholen die beiden Frauen für den Film The Invisible Frame die Tour, nun auf dem Mauerradweg entlang der verschwundenen Grenze zwischen Ost und West, auf beiden Seiten der Stadt. Es ist eine Erkundungsfahrt entlang der Wunden einer noch immer zerrissenen Stadt. Swinton blickt von Brücken, die 1988 noch nicht existierten, fährt vorbei an Orten, die früher im Todesstreifen lagen und heute von der Natur zurückerobert werden, und reflektiert als Erzählstimme über den Wandel der Zeit. Schaut man das heute, wieder 13 Jahre später, wird noch mal deutlich, wie sehr sich Berlin seitdem weiter unwiderruflich verändert hat.Eingebetteter MedieninhaltCycling the Frame und The Invisible Frame sind zwei Reisen in vergangene Welten, geleitet durch Swintons kontemplativen Blick, aus der Distanz der Grenzgängerin. Stets am Rand, aber offen und zugewandt. Gegen Ende steht Swinton am Checkpoint Charlie, betrachtet den Touristentrubel und wirkt mit ihren platinblonden Haaren wie eine Wiedergängerin des Aliens aus The Box.Dieser Außenseiterblick kehrt erneut wieder, 35 Jahre nach ihrem Debüt, in einem ihrer jüngsten Filme, Apichatpong Weerasethakuls Memoria von 2021, mit dem die Hommage auf Mubi am 5. August eröffnet. In Memoria macht Swinton sich als Jessica Holland, eine Frau aus Schottland, auf die Suche durch Kolumbien nach dem Ursprung eines mysteriösen Geräuschs, das nur sie wahrzunehmen scheint. Mit großer Neugier, aber innerer Ruhe wandelt sie durch die Straßen der Hauptstadt von Kolumbien, sucht eine wissenschaftliche Erklärung und beginnt, bei klarem Verstand und präzisem Wahrnehmungsvermögen, doch langsam an ihren Sinnen und ihren Erinnerungen zu zweifeln. Ihr Weg auf der Suche nach Erkenntnis führt sie immer weiter ab von den Pfaden der Zivilisation, immer tiefer in den Dschungel und damit in ein Reich des Unerklärlichen und der letzten Geheimnisse, eine Welt atemberaubender Sinneserfahrungen, jenseits gängiger Vorstellungen von Raum und Zeit. Ein philosophisches Abenteuer und eine meditativ-audiovisuelle Reise ins Unbekannte, mit Tilda Swinton als Tourenleiterin, bei der Bild und Ton ebenbürtig zu einem sinnlichen Erlebnis verschmelzen, das Augen und Ohren für neue Dimensionen öffnet.Langjährige FreundschaftenAußerhalb der offiziellen Retro findet sich auf Mubi noch ein weiterer sehenswerter Kurzfilm mit Tilda Swinton jüngeren Datums: A Human Voice (2020), Pedro Almodóvars Adaption des Einpersonenstücks Die menschliche Stimme von Jean Cocteau, gedreht als Kammerspiel im ersten Lockdown und als Introspektion einer verlassenen Frau eine Art Gegenstück.So oder so macht der Rückblick große Lust, noch weiter in Swintons schräge Welten einzutauchen, ihre frühen Filme wiederzuentdecken, Orlando etwa, Female Perversions oder Teknolust. Und die Reihe schließt auch den Kreis zum Heute. Denn bei aller Unberechenbarkeit ist Swinton hochgradig loyal. Mit Filmemacher*innen ihrer Wahl pflegt sie oft langjährige Freundschaften. So drehte sie mit Jarman bis zu dessen Tod neun Filme, mit Wes Anderson bislang fünf und mit Luca Guadagnino bislang vier.Eingebetteter MedieninhaltAuch mit ihrer „Entdeckerin“ Joanna Hogg arbeitet sie seit einigen Jahren wieder, bei den beiden autofiktionalen The-Souvenir-Filmen stand sie zuletzt sogar gemeinsam mit Tochter Honor Swinton Byrne vor der Kamera. Hoggs und Swintons neueste Kollaboration, der Mysterythriller The Eternal Daughter, hat nächsten Monat auf dem Filmfest in Venedig Weltpremiere. Gut möglich, dass sie uns damit einmal mehr mit neugierigem Blick durch unbekanntes Terrain führt.Placeholder infobox-1