Die U-Bahnstation Heidelberger Platz im heutigen Berlin, Stadtteil Wilmersdorf. Ein Wagen hält, der Bahnsteig füllt sich mit Menschen, die Kamera mittendrin, ein Keuchen ist zu hören, wem sie folgt ist nicht klar, die enge Plattform entlang, immer weiter bis ans Ende, die Treppen hinauf. Dort oben am Geländer lehnt ein junger Mann und bekommt kaum Luft. Eine Panikattacke. Ein Unbekannter spricht ihn an, dessen Gesicht unter dem Hut er im gleißenden Gegenlicht der Sonne nicht erkennt, und stammelt von den Gräueln des Kriegs, während das Bild selbst seine Gestalt ändert, grobkörniger wird und den Blick verengt von Breitwand auf das klassische 4:3-Format, und damit von der Gegenwart ins Gestern gleitet, dem Berlin der 1920 Jahre. Mit dieser atemlosen Sequenz beginnt Dominik Grafs Fabian, eine ebenso furiose wie formbewusste, alles andere als nostalgische Adaption des 1931 entstandenen aber erst 2013 erstmal unzensiert (als Der Gang vor die Hunde) erschienenen Berlin-Romans von Erich Kästner, über den jungen Werbetexter Jakob Fabian (Tom Schilling), der den Tanz auf dem Vulkan vor Hitlers Machtergreifung lange eher aus der ironischen Distanz beobachtet.
Graf findet dafür eine ganz eigene Formsprache, die in ihrer teils schwindelerregenden Kollage aus Bild- und Tonebenen Fassbinders Berlin Alexanderplatz näher ist als Berlin Babylon. Und wie Fassbinder braucht er nur kleine Akzente, um Relevanz und Gegenwartsbezug des Stoffes hervorzuheben.
Fabian war damit einer der herausragenden Beiträge dieser merkwürdigen Berlinale, die vergangene Woche pandemiebedingt als fünftägiges Branchenevent ohne Publikum online stattgefunden hat. Von einem Treff kann man dabei nur bedingt sprechen, neben einer Videoplattform, die der internationalen Presse einen Großteil der Beiträge für jeweils 24 Stunden verfügbar machte, sofern die Rechteinhaber dem zustimmten, gab es kaum Möglichkeiten der Begegnung oder des Austauschs, gestrichen waren auch die Pressekonferenzen und Podiumsgesprächen nach den Filmen. Und so ließ sich in den eigenen vier Wänden eine Festivalatmosphäre nur bedingt simulieren, statt des täglichen Marathons durch die Kinos am Potsdamer Platz blieb allenfalls der tageszeitabhängige Wechsel zwischen Schreibtisch, Couch und Bett, statt des kollegialen Plauschs in der Warteschlange mussten Whatsapp-Chats von Laptop zu Laptop oder die Reaktionen im Twitter-Feed genügen.
Festival als Kompromiss
Fabian kam in diesem Diskurs wenig vor, dem Gros der Akkreditierten wurde der Film nicht gezeigt, nur einige Journalisten konnten ihn vorab im Kino sehen. Damit ist auch bereits die Krux dieses Jahrgangs benannt, der immer ein Kompromiss zwischen unterschiedlichen Interessen und Möglichkeiten sein musste, aber womöglich wäre dieser Kotau vor Produktionsfirmen und Filmvertrieben vermeidbar gewesen. Die Einladung in den Wettbewerb eines A-Festivals ist eine Auszeichnung und eine Vorführung eigentlich Grundvoraussetzung. Natürlich kommt ein Film erst auf der Leinwand voll zur Wirkung, so wurden sie alle auch den vier in Berlin anwesenden Teilnehmern der insgesamt sechsköpfigen Jury präsentiert. Und das März-Event ist auch nur die erste Hälfte einer zweigeteilten Berlinale, im Juni soll das Programm dann der breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden, falls Corona keinen Strich durch die Rechnung macht. Doch davon abgesehen funktionierte die Online-Plattform selbst tadellos. Eine umfassende Einordnung der Wettbewerbsbeiträge blieb so einigen wenigen Kritikern vorbehalten.
Dabei erwies sich die Auswahl als eine der stärksten der letzten Jahre. Lag es am reichen Filmangebot, das sich pandemiebedingt angestaut hatte? An der strengeren Kuration, die in jeder Sektion deutlich weniger Film eingeladen hatte? Oder zeigt sich, ganz abseits der äußeren Umstände, nun deutlicher die Handschrift des Künstlerischen Leiters Carlo Chatrian und seines Auswahlkomitees? Seinem langjährigen Vorgänger Dieter Kosslick war oft vorgeworfen worden, den deutschen Film über Gebühr zu hofieren. Und ausgerechnet der Italiener Chatrian hievte nun gleich vier von 15 Filmen in den Wettbewerb. Verdient allesamt, wenn auch durchaus streitbar.
Maria Schrader begeisterte mit der Science-Fiction-Romantikomödie Ich bin dein Mensch, über eine Berliner Wissenschaftlerin, die einen auf ihre Bedürfnisse und Vorlieben programmierten Roboter testet und bald verwirrende Gefühle für den künstlichen Traummann entwickelt. Schrader und Co-Autor Jan Schomburg gelingt eine kluge und vielschichtige, zugleich tiefsinnige wie leichthändig wirkende Reflektion über das Leben, die Liebe und den freien Willen in einer von Algorithmen geprägten Welt. Maren Eggert wurde als stets kontrolliert agierende, dabei nicht gerade glückliche Alma mit dem neuen genderneutralen Schauspielpreis ausgezeichnet, Dan Stevens als allzumenschliche Maschine Tom hätte ihn durchaus auch verdient.
Mit langem Atem beobachtet Maria Speth in dem knapp vierstündigen Dokumentarfilm Herr Bachmann und seine Klasse einen Lehrer an einer hessischen Gesamtschule und dessen Schüler*innen aus Familien mit Migrationshintergrund. Fernab von Sozialkitsch zeigt sie einen ebenso überzeugten wie engagierten Pädagogen, der aus den Kids nicht zwangsläufig bessere Schüler machen will, sondern vor allem bessere Menschen und sie auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten versucht. Speth bleibt dabei stets aufmerksame Beobachterin und ihr gelingt ein einfühlsames und fesselndes Porträt eines ungewöhnlichen Lehrers und der Defizite des deutschen Bildungssystems. Am Ende gab es dafür den Silbernen Bär als Preis der Jury.
Als schwächster der vier deutschen Wettbewerbsbeiträge erwies sich das Kammerspiel Nebenan, mit dem Filmstar Daniel Brühl sein Regiedebüt gibt. Nach einem Drehbuch von Bestsellerautor Daniel Kehlmann spielt Brühl selbst den Protagonisten, einen selbstverliebten Schauspieler namens Daniel, der in einer Loftwohnung über den Dächern von Prenzlauer Berg wohnt und in einer Eckkneipe von einem alteingesessenen Nachbarn (Peter Kurth) in ein Streitgespräch verwickelt wird. Ein clever konstruiertes Dialogduell über Image und Promikult, Gentrifizierung und die deutsche Nachwendezeit, das geschickt mit Klischees jongliert, aber letztlich in seiner ironisch überhöhten Selbstbespiegelung arg eitel gerät.
Der Goldene Bär ging schließlich nach Rumänien. Bad Luck Banging or Loony Porn von Radu Jude ist eine schrille Satire, die unvermittelt mit einer sehr expliziten Amateurpornoszene beginnt und auch in den folgenden 100 Minuten keine Gefangenen nimmt. Das Sexvideo stammt von einer Lehrerin, das sie privat mit ihrem Ehemann gedreht hat und sie nun in Schwierigkeiten bringt, als es in die Öffentlichkeit gelangt. Nach allerlei Kapriolen kommt es letzten Drittel dieses durchgeknallten Tryptichons zum Tribunal der empörten Moralapostel. Und nein, Bad Luck Banging… ist natürlich keine Corona-Satire, wie mehrfach zu lesen war, nur weil Radu Jude anders als seine Regiekolleg*innen nicht so tut, als gäbe es diese Pandemie nicht, und seine Darsteller im vergangenen Sommer gedrehten Film mit Mundnaseschutz durch Bukarest laufen lässt. Aber er baut die Situation geschickt ein, um einer von Hass und Scheinheiligkeit zunehmend polarisierten Gesellschaft und ihrer Wutbürger den nur leicht verzerrten Spiegel vorzuhalten. Der israelische Regisseur Nadav Lapid (Goldener Bär 2019 für Synonyme) nannte den Film „ausgelassen, intelligent und kindisch“ und Ausdruck des Zeitgeists und als solcher geht er natürlich völlig in Ordnung. Er ist der logische Preisträger dieses seltsamen Jahres. Nun bleibt nur noch zu hoffen, dass die Publikums-Berlinale im Juni auch wirklich stattfinden kann, ob Openair oder auch in Kinosälen. Sehenswerte Filme jedenfalls stehen in Hülle und Fülle bereit.
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