„Die Serie ist Jazz“

Interview Produzent Alan Poul machte bei „The Eddy“ alles anders: Am Anfang war da keine Figur und keine Handlung, sondern nur Musik
Ausgabe 19/2020

Amerikaner in Paris, aber ohne Montmartre-Romantik oder Stadt-der-Liebe-Klischees: In der neuen Netflix-Serie The Eddy erscheint Paris als Jazzmetropole mit düster-dreckigem Nachtleben. Die Handlung ist dabei gar nicht so wichtig, stattdessen lebt die atmosphärisch dichte Miniserie von der Musik. Ihre Jam-Sessions und Konzerte wurden mit live am Set spielenden Profimusikern aufgenommen, vor und hinter der Kamera war Diversität höchste Devise. Produzent Alan Poul (Six Feet Under) erzählt von den Dreharbeiten, von den Umbrüchen der Serienbranche und den möglichen Folgen der Kinoschließungen.

der Freitag: Wie kommt man auf die Idee, eine Serie über einen Jazzclub in Paris zu kreieren?

Alan Poul: Es passierte alles andersherum als sonst: Im Herbst 2013 kam Glen Ballard mit einer Reihe Songs auf mich zu, die er komponiert hatte und sich als Ausgangspunkt einer Serie vorstellte. Er hatte die Stücke bereits mit einer Band aufgenommen, die er The Eddy nannte, und brachte mir eine CD davon mit. Als Regisseur fiel mir sofort Damien Chazelle ein, der damals gerade mit dem Drummerfilm Wiplash in Sundance Weltpremiere feierte. Ich nahm Damien mit zu einem Konzert von Glen und seiner Band, und uns kam die vage Idee eines Jazzclubs im heutigen Paris, wobei es uns vor allem darum ging, das wirkliche Paris zu zeigen, abseits der Klischees, die multikulturelle Metropole mit all ihren Ethnien und Sprachen. Wir fingen also mit der Musik an, und erst dann entstand das Script, also genau die umgekehrte Reihenfolge wie üblicherweise. Und das spürt man noch immer im jazzigen, improvisierten Tonfall der fertigen Serie.

Wie haben Sie diese Atmosphäre konkret entwickelt?

Die DNA der Serie ist Jazz, und dessen lockere, spontanere Ausdrucksweise wollten wir auf die Inszenierung übertragen, sowohl in den dramatischen Szenen als auch bei den Musikauftritten. Mir schwebte anfangs als Referenz Robert Altmans Nashville vor, der sehr improvisiert inszeniert war. Die Musik im Film war komplett diegetisch, passierte also in der Szene; es gab keinen darübergelegten Score. Darüber hinaus haben wir uns an den Filmen von John Cassavetes und der französischen Nouvelle Vague orientiert und kamen so schnell auf die 16mm-Handkamera-Ästhetik. Wir drehten entsprechend, die Kamera folgte den Schauspielern, die Szenen entwickelten sich im Moment des Spiels, und die Kamera war dabei eher Beobachter.

Sie haben vor Ort in Paris gedreht, die Figuren sprechen teils Englisch, teils Französisch ...

Die Dialoge existierten im Drehbuch zweisprachig, wir entschieden oft erst beim Dreh einer Szene, welche Sätze besser auf Englisch oder Französisch funktionieren. Dieses Springen zwischen den Sprachen spiegelt wider, wie Menschen in diesen urbanen Milieus unserer globalisierten Welt miteinander kommunizieren.

Zur Person

Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Alan Poul, 66, lebt in Los Angeles und hat als Produzent und Regisseur von vielen legendären Serien wie etwa Stadtgeschichten, Six Feet Under, Big Love oder Newsroom das „Goldene Serienzeitalter“ wesentlich mitgestaltet

Wie schwierig war es, Netflix von einem derart ambitionierten Projekt zu überzeugen?

Sie waren von der Idee, live und improvisiert zu drehen, begeistert. Zweifel hatten sie vor allem bei der Besetzung, denn außer der Sängerin, die von der polnischen Schauspielerin Joanna Kulig aus Cold War gespielt wird, wollten wir alle Rollen mit professionellen Musikern besetzen, die aber eben auch als Schauspieler überzeugen mussten. Und es gab bestimmte Vorstellungen, was Nationalität, Geschlecht etc. anging. Wir brauchten also Laiendarsteller, die all das erfüllen und zugleich interessante Persönlichkeiten sind.

Jeweils zwei der acht Episoden werden von unterschiedlichen Regisseuren inszeniert, neben Damien Chazelle von der Französin Houda Benyamina und der aus Marokko stammenden Laïla Marrakchi. Die beiden letzten Folgen haben Sie selbst inszeniert.

Wir wollten gerade, dass in jeder Folge auch eine eigene Regie-Handschrift sichtbar wird. Ich bestärkte die drei anderen also darin, ihre Freiheiten zu nutzen und Neues auszuprobieren.

Sie haben im Laufe Ihrer Karriere immer wieder Serien kreiert, die gewagt und ungewohnt waren, von den „Stadtgeschichten“ Anfang der Neunziger über „Six Feet Under“ bis „Newsroom“. Dabei haben Sie früh mit Bezahlsendern wie Showtime und HBO zusammengearbeitet. Wie sehen Sie den Wandel der Branche?

Mit Six Feet Under landeten wir 2001 genau zur richtigen Zeit bei HBO, als sich die ganze Serienbranche und damit das Konsumverhalten änderte. Vor den Sopranos war das Geschäftsmodell der Networks, Serien zu syndizieren, also an regionale Sender für Wiederholungen weiterzuverkaufen. Und dafür mussten die einzelnen Episoden einer Dramaserie in willkürlicher Reihenfolge sendbar, also die Handlungen in sich abgeschlossen sein. So funktionierten alle Krimis und Arztserien. All das änderte sich um die Jahrtausendwende mit HBO. Damals begann das Goldene Zeitalter, wir hatten sehr viele Freiheiten, es entstand radikal Neues, das entsprechend für Aufmerksamkeit sorgte. Das ist nun längst die neue Normalität. Wir haben heute im Serienbereich mehr Inhalte als jemals zuvor, die nicht mehr in ein festes Sendeprogramm gepackt werden müssen, weil der Zuschauer entscheidet, wann er etwas sehen möchte. Als Macher stehen wir heute vor einer ganz anderen Herausforderung: Wie schafft man in diesem Überangebot eine Serie, die den Zeitgeist bestimmt, über die gesprochen wird? Unsere Kultur ist heute extrem fragmentiert. Einigen Serien gelingt eine gewisse Aufmerksamkeit, wie gerade Tiger King etwa, aber schon lange hatte keine mehr einen verändernden Einfluss auf die Kultur wie Sopranos oder noch Game of Thrones.

Wie wird sich Corona auf diese Entwicklung auswirken?

Es betrifft uns als Macher natürlich gerade alle. Ich arbeite bereits an einer neuen Serie, Tokyo Vice für HBO Max, und wir hatten in Japan gerade den sechsten Drehtag, als wir abbrechen mussten. Wir wissen alle nicht, wann und ob wir weitermachen können. Für The Eddy wiederum ergibt sich jetzt womöglich die Chance, dass die Zuschauer mehr Muße haben, sich auf eine ungewöhnliche Serie einzulassen. Aber für das Kino ist es fatal. Selbst wenn die Maßnahmen gelockert werden, wird ein Großteil des Publikums wohl nur zögerlich wieder in einem Saal mit anderen Menschen sitzen wollen. Das wird womöglich mehr verändern als die Zeitenwende durch Pay-TV und Streamer.

Info

The Eddy startet am 7. 5. auf Netflix

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