Es beginnt mit einer Zeitreise per Kamerafahrt: Sie beginnt am Eingang der Berliner U-Bahnstation „Heidelberger Platz“ im Gewusel der Gegenwart und endet an deren Ausgang auf Straßenebene im Jahr 1931. So verbindet Dominik Grafs Erich-Kästner-Verfilmung „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ gleich in den ersten Minuten das Heute mit den Zeiten des Umbruchs der frühen 30er Jahre. Furios und atmosphärisch dicht inszeniert Graf die „Geschichte eines Moralisten“, in der Titelheld Fabian (Tom Schilling) die auf den Abgrund zusteuernde Welt lange eher distanziert beobachtet, während er spöttisch das eigene Verliebtsein genießt. Kästners hellsichtigen, sarkastischen Tonfall überträgt Graf in einen packenden Tumult von Bildern und Tönen, ohne das Literarische der 90 Jahre alten Vorlage zu leugnen.
der Freitag: Herr Graf, was macht die Weimarer Ära so interessant?
Dominik Graf: Ich glaube, dass die 20er Jahre in Berlin mit allem, was dranhängt, mit der Vor- und Nachgeschichte ein Weltmythos sind, nicht nur bei uns. Man kommt dabei immer wieder auf faszinierende Verkettungen, weil gleichzeitig so viel los war. Das zeigt ja die Serie Babylon Berlin, die Geschichte der Berliner Kriminalpolizei seit dem Ersten Weltkrieg, die ist so aufregend, dass man sie mit dem alten New York oder Los Angeles vergleichen kann.
Was hat Sie konkret bewogen, jetzt Erich Kästners „Fabian“, diesen 90 Jahre alten Roman zu verfilmen?
In Kästners Gesamtwerk ist das ja eher ein Ausreißer. Jeder hat Kästner irgendwo im Regal stehen, seien es die Kinderbücher oder die Gedichte der Lyrischen Hausapotheke. Aber Fabian zeigt, zu was Kästner auch noch fähig war: Was für einen feinen Zeitblick er hat, was für eine Präzision in der Metaphorik für diese ganze Weimarer Republik, die er da beschreibt. Nach der Neu-Veröffentlichung von 2013 kam zunächst von einem anderen Produzenten, und dann von Felix von Boehm der Vorschlag, den Roman nochmal neu zu verfilmen. Durchaus auch um eine Parallele der Zeiten damals und jetzt herzustellen, obwohl ich immer nicht so sicher bin, ob das so eins zu eins möglich ist. Die Vorstellung, dass wir in einer ähnlich geteilten Gesellschaft wie damals leben, einer Gesellschaft, die sich genauso schroff und genauso hart bis zur tätlichen Auseinandersetzung gegenübersteht, teilen ja viele. Ich weiß nicht, was heute unser Äquivalent zur Ur-Katastrophe des ersten Weltkriegs wäre, was der Auslöser dafür war, dass die Mitte auseinandergebrochen ist und die extremen Lager sich weit auseinanderentwickelt haben. Denn das ist eine der Perspektiven, die Kästner auf seine Zeit hat. In einer so bedrohten Gesellschaft spielen sich politisch andere Verwerfungen ab als in einer noch halbwegs intakten Demokratie, wie wir sie in Westdeutschland bis 1990 hatten.
Zur Person

Foto: Becker&Bredel/Imago Images
Dominik Graf, geboren 1952 in München, wechselt wie kaum ein anderer deutscher Regisseur zwischen den Film-Genres und den Medien Fernsehen und Kino hin und her. Legendär sind seine Tatorte (Frau Bu lacht) genauso wie seine Serien (Im Angesichts des Verbrechens) und Spielfilme (von Die Katze über Die geliebten Schwestern bis jetzt Fabian).
Das Buch trug damals den Untertitel „Geschichte eines Moralisten“...
Kästner selbst bezeichnete sich als Moralist, er legt auch Fabian die Frage in den Mund: ist die Welt überhaupt noch anständig? Aber ich finde, Fabian ist da kokett und verbirgt, wie fasziniert er doch auch ist, dieser ganzen Gesellschaft dabei zuzusehen, wie sie vor die Hunde geht. Wenn er sagt, dieses Berlin, dieser durchgedrehte Steinhaufen, ist dem Untergang geweiht, dann inspiriert ihn das auch für seinen ungeschriebenen Roman.
Fabian ist Werbetexter, wie Kästner es auch mal war, überhaupt sind die Parallelen zwischen Kästner und Fabian sehr deutlich. Identifizieren auch Sie sich ein bisschen mit der Rolle des Moralisten?
Im ambivalenten Sinn, Moralist ohne Moral, sicher mehr als mit der optimistisch sozialkämpferischen Rolle, die Labude in der Geschichte einnimmt. Der vernachlässigte Millionärssohn, der sich für die arbeitende Klasse ins Zeug werfen will und verzweifelt zugrunde geht. Ich bin gewiss auch eher ein Voyeur dessen, was sich abspielt. Das politische Engagement, die Utopie und der Glaube, dass sich etwas bessert, ist 100 Jahre nach der Weimarer Republikwieder sehr kompliziert, nach allem, was zwischendurch geschah und was jetzt passiert.
Der Roman ist auch ein einzigartiges Zeitdokument für das bereits erwähnte legendäre Berlin der 20er. Wie adaptiert man einen solch atmosphärischen Stoff zu einem Filmdrama?
Kästner hat gesagt, dass der Roman keine Handlung habe. Aber als Regisseur hat man das Gefühl, sich gerade dadurch in diese Zeit werfen zu können, in jede Szene, in jeden Augenblick. Ich wollte versuchen, die Vergangenheit für den Zuschauer zur atmosphärischen Gegenwart werden zu lassen, ohne ständige dramaturgische Wendungen. Die gibt es in der Tat wenig, weder im Roman noch im Film. Beide sind ein Zeit-Fresko mit drei Figuren im Zentrum, und mit einer Liebesgeschichte, die für mich fast das Wichtigste war. Eine Liebe in stark gefährdeten Zeiten, die dabei recht modern Interessenkonflikte zeigt. Der Mann will großer Autor sein, die Frau geht einen damals üblichen Weg via Produzenten-Couch zur Schauspielerin, keiner gibt nach, die Dialoge habe ich zum Teil wortwörtlich übernommen. Die Gefühle ebenso wie die ökonomischen Grundbedingungen von prekären Beziehungen, bringt Kästner sehr präzise auf den Punkt.
Die Filmsprache fordert mit ihren überlappenden Dialogen und mehreren Erzählstimmen, mit Bildüberblendungen und verschiedenen Filmformaten. Wie haben Sie diese Ästhetik entwickelt?
Die Grundidee war, diesen Kosmos, in dem wir die nächsten drei Stunden verbringen, von Anfang an in ein Gefühl zu übertragen von Chaos, Gleichzeitigkeit und Überforderung. Menschen werden von der Zeit weggerissen, weggespült. Man kann, soll gar nicht alles gleichzeitig mitkriegen. Das wollten wir erreichen, um uns dann, wenn die Liebesgeschichte beginnt, ganz auf die drei Personen zu konzentrieren.
In Filmen über die Weimarer Ära gibt es oft die Gefahr des Besserwisserischen von uns Nachgeborenen angesichts der Katastrophe, auf die das Geschehen zusteuert. Ihr Film ist angenehm frei von dieser Schadenfreude…
Ja, die erzählerische Schlaubergerei! Jeder Satz, jede auftretende Figur, jeder Nazi, der durchs Bild geht, soll uns in unseren heutigen moralischen Gut-Böse-Urteilen bestätigen... Ich habe mich bemüht, es nicht so zu machen. Ich hatte eigentlich vor, nie eine Naziuniform zu filmen. Es gelingt einem aber als Regisseur in Deutschland dann doch nicht, dennoch haben wir versucht es etwas „anders“ zu machen. Ich wollte es ganz aus der Zeit selbst heraus entwickeln. Da marschieren Nazis plötzlich an dir vorbei, einer grüßt freundlich, einer lässt einen Pfiff los. Es scheint alles noch nicht so ernst zu sein. Oder doch? Ja, man hat schon gehört, dass jemand blutig geprügelt wurde und was war da neulich auf dem Kudamm los?... In der Zeit selbst weiß noch keiner sicher, was daraus werden wird. Es ist eine bestimmte gesellschaftliche Klasse, in der sich Fabian bewegt, dieses kleinbürgerliche Künstlertum, manchmal ist da eine Sängerin oder eine Malerin auch gleichzeitig Prostituierte. Ein Kriegsversehrter lässt seine Verbitterung an einer käuflichen Frau aus. Es ist eine andere Gesellschaft als die Gangstermythen in Babylon Berlin oder in Berlin Alexanderplatz. Fabians Welt ist klein und manchmal auch fast behaglich, aber man spürt, dass auch sie alle in den Strudel gerissen werden.
Es gibt im Film ein paar Irritationen in der historischen Kulisse, gleich im Prolog etwa mit der Kamerafahrt durch den heutigen U-Bahnhof am Heidelberger Platz, später sieht man kurz Stolpersteine, die ja seit den 90er Jahren als Andenken für ermordete Juden verlegt wurden. Was hat Sie zu dazu bewogen?
Sowohl die lange Kamerafahrt anfangs durch den U-Bahnhof als auch das Bild der Stolpersteine sind mehr oder weniger improvisiert. Die Stolpersteine waren wirklich vor dem wunderschönen Eingang in der Uhlandstraße, an dem wir diese Szene drehten, die fielen mir erst beim Drehen auf. Ich habe es ein wenig wie ein Wurmloch durch die Zeiten empfunden.
Gab es die Überlegung, die Handlung ganz in die Gegenwart zu verlegen, wie zuletzt bei „Berlin Alexanderplatz“?
Nein, ich wollte den Roman in seiner Zeit spielen lassen, aber nah an den Figuren als wären wir mit ihnen unterwegs. Ich dachte, es muss filmisch auch andere Wege geben, um sich der Vergangenheit zu öffnen, ihr nah zu sein, aber auch zu zeigen, wie fremdartig sie ist, auch wie anders oft die Emotionen und das Verhalten der Menschen waren. Wie sich etwa im kleinen Puff alles mögliche miteinander verwebt, aus den unterschiedlichsten Schichten, während die Gesellschaft heute ja in ihren Hamsterkäfigen und Blasen verharrt.
Das gilt ja auch fürs Kino...
Ja, es gibt Arthouse und es gibt Kommerz, beide auf ihren streng getrennten Verkaufsschienen. Wenn ich mir das amerikanische Kino der Siebziger anschaue, finde ich unzählige Filme, die Riesenerfolge und zugleich filmisch bahnbrechend waren. Das Vertrauen in die kreative, manchmal innovative Kraft im Populären ist abgestorben. Der Kommerz kommuniziert nur selten noch mit der Filmkunst und die Filmkunst will sich zwangsneurotisch vom Kommerz abheben, weil sie meint, dass Kommerz per se schon doof ist. Das bedeutet auch eine Verarmung des Kinos. Wie Fabian im Film sagt: „Warum muss die Avantgarde immer nur avantgardistisch sein?“ Jeder befolgt halt ordentlich die Regeln seines Geschäftsmodells.
Sie haben mit „Im Angesicht des Verbrechens“ 2010 bereits eine Serie geschaffen, die Berlin als Moloch und Mythos nutzt. Was fasziniert Sie so an der an der Stadt?
Sie ballte ja spätestens seit den 20er Jahren Ost- und West-Europa zusammen, wie es kaum eine andere Stadt in Europa vermochte. Was hier alles durchgezogen ist aus sämtlichen Ecken der Welt, wie viele Ethnien, und sich wie in New York entweder bekriegt oder miteinander vermählt hat, das ist schon erstaunlich.
Wie trifft man heute noch die stimmige Atmosphäre dieses längst vergangenen Berlins? Die Orte existieren ja so nicht mehr…
Wer weiß, ob es stimmig ist? Wir haben uns eine behauptete Authentizität zusammengebastelt. Drei Viertel des Films haben wir in Görlitz gedreht. Görlitz ist als Filmort unglaublich, weil es trotz seiner Überschaubarkeit ganz verschiedene Baustile in sich birgt. Man kann das 19. Jahrhundert direkt neben modernistischer DDR-Architektur finden. Berlin selbst ist immer schwieriger bedrehbar, weil sich die Stadt durch endlose Baumaßnahmen komplett blockiert und weil Motive verschwinden und stattdessen grässliche Ungetüme wie das Stadtschloss auferstehen.
Sie haben fürs Kino und Fernsehen gearbeitet, zwei Sphären, die viele immer noch gerne gegeneinander ausspielen…
Das gehört auch zu dieser Schubladen-Perspektive. Letzten Endes habe ich Thriller im Fernsehen gemacht, weil man kleine dreckige Polizeifilme im deutschen Kino nicht mehr finanziert bekam. Ich habe den Eindruck, die mangelnde Wertschätzung des Fernsehens hat auch mit der Fernsehkritik zu tun und wie sie mit dem Medium umgeht. Fernsehen wurde immer klein gesehen, Film war immer das Große. Der Serienhype hat das ein wenig verändert, aber die Seriendramaturgien sind einfach zu stereotyp. Ich bin als Zeitgenosse des deutschen Autorenfilms aufgewachsen und fand beileibe nicht alles großartig; dagegen stieß ich immer wieder auf was im Fernsehen, einen WDR-Tatort etwa oder einen Film von Klaus Lemke, und fand die interessanter als den ganzen Jahresausstoß des Kinos.
Jetzt öffnen die Kinos wieder, nachdem sie ein Jahr lang fast geschlossen haben…
Sie haben vorhin gefragt, ob Fabian auch eine Serie hätte sein können. Nein, hätte es nicht, weil er die Art von Film werden konnte, die ich in diesem schwarzen Kinoraum projiziert sehen möchte, mit möglichst vielen Leuten zusammen natürlich, wo eine andere Form der Kommunikation mit den Bildern passiert. Kino fordert eine andere Konzentration und mit dieser stärkeren Aufmerksamkeit des Zuschauers kann man auch als Kreativer völlig anders umgehen.
Wie sehen Sie die Pandemie aus der Sicht des Filmemachers?
Ich glaube, die Pandemie hat Dinge verschärft, die vorher schon da waren. Dem Kino ging es schon vorher nicht besonders gut, ausgenommen die ganz großen Blockbuster. Es werden halt in Deutschland nicht viele primär kommerzielle gemeinte Filme hergestellt, weil die auch tendenziell immer teuer sind, sondern stattdessen werden sehr viele kleine, teilweise sehr schöne Arthausfilme finanziert, die dann nur ein begrenztes Publikum finden. Das ist das System der staatlichen Förderung, Hand in Hand mit den Fernsehsendern.
Für wen haben Sie den Film gemacht? Wer ist Ihr ideales Publikum für „Fabian“?
Wie gesagt, ich selbst. Aber ich kenne den Film ja nun schon. „Zielpublikum“, das sind so Debatten, die sollen Verleiher führen, das war nie mein Ding, ich finde, man macht Filme eigentlich immer grundsätzlich für alle.
Info
Fabian oder Der Gang vor die Hunde Dominik Graf Deutschland, 176 Minuten
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