Ein Mann unter Einfluss

Film In Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ zweifelt ein Lehrer am Sinn von allem – und hilft sich dann mit Alkohol
Ausgabe 29/2021

Martin (Mads Mikkelsen) hat mit Mitte fünfzig alles verlernt. Den Spaß am Beruf, die kleinen Freuden des Alltags, die Lust am Leben. Dabei hat er scheinbar alles zum Glücklichsein. Doch als Geschichtslehrer einer Abiturklasse ödet er seine Schüler nur noch an, er weiß selbst nicht mehr, welchen Stoff er zuletzt unterrichtet hat. Seine Frau nimmt seine teilnahmslose Anwesenheit zu Hause offenbar kaum noch wahr, die beiden Söhne leben in ihrer eigenen Welt und zeigen kein sichtbares Interesse. Was ist nur passiert? Wie wurde er so unzufrieden und ausgebrannt? Diesen und weiteren Fragen geht der dänische Regisseur Thomas Vinterberg in seinem neuen Film Der Rausch nach und bietet auch gleich einen unkonventionellen und nicht ganz ungefährlichen Ausweg an, der da verkürzt lautet: Saufen hilft.

Den Vorschlag bringt sein guter Freund Nikolaj (Magnus Millang), der zur Feier seines 40. Geburtstags ins Sternerestaurant geladen hat, neben Martin auch die beiden anderen der Clique, Tommy (Thomas Bo Larsen) und Peter (Lars Ranthe), allesamt Lehrer am selben Gymnasium. Martin sitzt zunächst da wie ein Häufchen Elend, sagt kaum ein Wort, während die anderen ausgefallen palavern, die edlen Tropfen fließen in Strömen, er nippt als Einziger nur am Wasserglas. Was Nikolaj dann erwähnt, klingt zunächst wie eine Schnapsidee, beruht jedoch auf einer bemerkenswerten Theorie. Dem norwegischen Psychiater Finn Skårderud zufolge hat der Mensch naturgemäßig zu wenig Alkohol im Blut, Unteralk sozusagen; mit einem konstanten Level von 0,5 Promille würde uns schlicht alles leichterfallen und besser glücken. Wir wären kreativer, unternehmungslustiger, empathischer anderen und uns selbst gegenüber und hätten, natürlich, besseren Sex. Etwas Schwung im Blut könne zu erstaunlichen Selbsterkenntnissen und ungeahnten Höhenflügen führen.

Als am nächsten Morgen die Eltern seiner Schüler auftauchen, um sich über den schlechten Unterricht und die ungenügende Vorbereitung auf die Abiturprüfungen zu beschweren, wagt Martin den Versuch und schickert sich vorm Unterricht einen an. Zwar hapert’s etwas mit der genauen Aussprache, aber ansonsten fühlt er sich dynamisch, wie ausgewechselt. Als er davon erzählt, müssen die Freunde nicht lange überredet werden, auch ihre Potenziale auszutesten und die Theorie einem Selbstversuch zu unterziehen.

Für das Experiment gibt es ein Messgerät und klare Regeln: getrunken werden darf nur tagsüber, ab 20 Uhr ist Schluss, am Wochenende gar nicht, und die Erfahrungen werden streng protokolliert. Und tatsächlich sind die ersten Resultate verblüffend, Martins Geschichtsstunde ist plötzlich mitreißend, Peter motiviert seinen verschlafenen Schulchor zu berührender Ausdruckskraft und Tommy die Schüler im Sport zu mehr Teamgeist. Der Elan, den die vier unter Einfluss entwickeln, überträgt sich auch auf ihr privates Umfeld. Martin überrascht seine Familie mit einem Paddelausflug, den auch er selbst sehr genießt, obwohl er dabei sogar nüchtern bleibt.

Dann wird es instabil

Doch so glatt vieles plötzlich geht, so selbstverständlich gerät das Experiment langsam aus dem Ruder. Weil das mit dem Pegeltrinken auf Dauer eben doch nicht so einfach ist, wenn der Alkohol nicht bloß Genussmittel ist, sondern eine Funktion erfüllt. Wenn es ohne nicht mehr läuft oder zumindest sehr viel mühsamer. Vinterberg und sein Co-Autor Tobias Lindholm wagen hier eine Gratwanderung, ziehen die Ambivalenz einer klaren Verdammung vor.

Alkohol ist die gesellschaftlich akzeptierte Volksdroge, das soziale Schmiermittel, das in Maßen genossen Menschen beflügelt, aber auch ein potenziell tödliches Gift sein kann. So zweischneidig inszeniert Vinterberg es dann auch, zunächst euphorisch-heiter, dann zunehmend instabil mit nervöser Handkamera und Unschärfen im Bild. Er beobachtet mitfühlend aus der Distanz und urteilt nicht über das Verhalten seiner Figuren. Wo andere Alk-Dramen die Moralkeule gegen die Gefahren des Missbrauchs schwingen und sich im Elend des Abstürzens suhlen, zeigt Vinterberg das Für und Wider der bewusst herbeigeführten Kontrolllockerung, plädiert auch auf das Recht zur Ausschweifung. Mit trockenem Witz baut er Archivaufnahmen angesoffener Politiker wie Boris Jelzin und Donald Tusk ein und zeigt, dass man sogar beim Lenken der Geschicke ganzer Nationen nicht unbedingt nüchtern sein muss.

Letztlich geht es darum, etwas zu finden, das einen motiviert und erfüllt. Thomas Vinterberg hat es im Filmemachen getan. Sein präzises Hinschauen und Sezieren der Lebenskrisen und Fluchtstrategien bis zur Schmerzgrenze, dabei doch immer eine grundsätzlich zuversichtliche Haltung wahrend, ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass er nur wenige Tage vor Drehbeginn seine Tochter bei einem tödlichen Autounfall verlor und trotzdem die Kraft aufbrachte, weiterzumachen.

Ursprünglich sollte Der Rausch vergangenes Jahr auf dem Filmfest in Cannes laufen, das dann abgesagt werden musste. Schließlich feierte der Film im September in San Sebastián Weltpremiere, wo die vier exzellenten Hauptdarsteller als Ensemble mit dem Schauspielerpreis ausgezeichnet wurden. Seitdem hat Der Rausch zahlreiche weitere Ehren erhalten, darunter fünf dänische und vier europäische Filmpreise, im April schließlich den Oscar als Bester Internationaler Film. Nach pandemiebedingten Verschiebungen startet das tragikomische Drama nun auch in deutschen Kinos. Es wird polarisieren, keine Frage. Auch weil es so nah an der Alltagsrealität des Publikums ist. Jede*r hat eine persönliche Einstellung zum Alkohol und zum (eigenen) Trinkverhalten, die beeinflusst, wie Der Rausch individuell wirkt. Finn Skårderud übrigens hält bis heute an seiner Theorie fest.

Info

Der Rausch Thomas Vinterberg Dänemark 2020, 117 Minuten

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