„Es brodelt in der Welt“

Interview Den Regisseur Ramin Bahrani interessiert die Realität und nicht das Bollywood-Happyend
Ausgabe 04/2021

Seit seinem Regiedebüt Strangers seziert Ramin Bahrani in nunmehr acht Spielfilmen mit präzisem, empathischem Blick Überlebenskämpfe von Migranten und Arbeitern in kapitalistischen Strukturen. Mit Der weiße Tiger adaptierte der 45-jährige US-Iraner nun den Roman seines langjährigen Freundes Aravind Adiga, der dafür 2008 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde. Während es beim Zoom-Interview an diesem grauen Januartag in Berlin bereits dämmert, ist es in New York noch früher Vormittag, und Ramin Bahrani sitzt hellwach und hochkonzentriert in seinem Wohnzimmer, das er vor der Webkamera ebenso offen präsentiert, wie er die Fragen beantwortet.

der Freitag: Herr Bahrani, Aravind Adiga hat seinen Roman „Der weiße Tiger“ schon beim Erscheinen 2008 Ihnen gewidmet. Wie kam es dazu?

Ramin Bahrani: Aravind und ich sind seit rund 25 Jahren eng befreundet. Wir lernten uns an der Columbia University in New York kennen, wo wir beide als Undergrads studierten und zu einer Clique von Studenten aus unterschiedlichsten Kulturen,

iranisch, indisch, libanesisch, syrisch, gehörten … Aravind und ich hatten sofort einen besonderen Draht zueinander. Seit über zwei Jahrzehnten tauschen wir uns über Filme und Bücher und die Welt im Allgemeinen aus. Ich hatte jahrelang immer wieder verschiedene Rohfassungen von Der weiße Tiger gelesen, wobei mich vor allem der Protagonist der Geschichte, Balram, faszinierte. Er hat etwas Einzigartiges, ein Energiebündel, witzig, sarkastisch, düster, smart, subversiv und auf sympathische Art unangenehm – ein fantastischer Charakter, und ich wartete 15 Jahre darauf, ihn zum Helden eines Films zu machen.

Warum hat es so lange gedauert?

Ich habe eine Reihe anderer Filme gedreht und der Roman entwickelte sein ganz besonderes Eigenleben, er wurde sehr schnell unglaublich erfolgreich. Vor etwa vier Jahren fragte mich Aravind dann, ob jetzt nicht der richtige Moment zur Verfilmung wäre. Die Rechte hatte der indische Produzent Mukul Deora, und wir hatten ähnliche Vorstellungen, wie die Geschichte als Film funktionieren würde. Damit gingen wir zu Netflix, und sie gaben uns sofort das erforderliche Budget, weil sie das große globale Potenzial in dem Projekt sahen.

Der Roman ist in Briefform verfasst. Sie haben das in Ihrem Drehbuch kongenial übertragen, als eine Mischung aus Voiceover des Ich-Erzählers, der sich immer wieder auch direkt in die Kamera blickend an das Publikum wendet. Das hätte auch schiefgehen können …

Wenn Sie mich das heute fragen, kann ich die Herausforderung sehen. Ich schaute mir noch mal Filmklassiker mit Off-Kommentar an, die Krimikomödie Adel verpflichtet etwa oder Truffauts Jules und Jim. Aber auch David Finchers Fight Club war ein Einfluss, weil darin Edward Nortons Figur ähnlich düster-komisch und verschroben die Handlung in einer Mischung aus persönlichen Erlebnissen und Sozialkritik kommentiert, wie sich jetzt Balram nebenbei über indische Kultur auslässt.

Zur Person

Foto: Vittorio Z. Celotto/Getty Images

Ramin Bahrani wurde 1975 in Winston-Salem, North Carolina, als Sohn iranischer Immigranten geboren. Zu seinen Spielfilmen zählen u.a. Man Push Cart (2005), Um jeden Preis (2012), 99 Homes (2014), Fahrenheit 451 (2018)

Mussten Sie viel über die gesellschaftliche Situation in Indien und das Kastensystem recherchieren?

Ich hatte im Laufe der Jahre immer wieder mit Aravind über Indien gesprochen und verbrachte schließlich zwei Monate im Land, um es aus erster Hand kennenzulernen. Aravind hatte mir einen super Ratschlag gegeben, den ich, soweit möglich, beherzigte: „Lass dich nicht in einem Wagen mit Aircondition rumkutschieren. Nimm den Bus, und wenn du von einer Location hörst, die dich interessiert, geh zu Fuß dorthin!“ Ich unterhielt mich mit vielen Fahrern, die in den Parkgaragen der Luxushotels und Lofthochhäuser auf ihre Dienstherren warteten. Danach schrieb ich das Drehbuch noch einmal stark um. Und als Filmcrew heuerte ich zu 99 Prozent Leute vor Ort an. Ich brachte nur drei Leute aus den USA und den Kameramann aus Italien mit, alle anderen waren Inder. Das half enorm, nicht nur, weil sie Authentizität gewährleisteten, sondern auch, weil sie als Teil einer der größten Filmindustrien der Welt exzellent in ihrer Arbeit sind.

Der bis dato völlig unbekannte Adarsh Gourav trägt als Balram diesen Film. War es nicht riskant, statt eines Stars einen Newcomer zu besetzen?

Diese Figur kann nur von jemandem verkörpert werden, der nicht bereits reich und berühmt ist. Alles andere wäre der Geschichte einfach nicht gerecht geworden. Und zum Glück haben wir Adarsh gefunden, ich mochte ihn von der ersten Sekunde an. Wie er sich bewegte, wie er sprach, all das war so erfrischend natürlich. Und dieses offene, warme Lachen – man muss ihn einfach mögen. Und wenn er ernst blickt, brodelt es hinter der Fassade, und man nimmt ihm ab, dass auch eine dunkle Seite in ihm steckt.

Nicht nur der Protagonist ist widersprüchlich, auch der Film selbst ist ein wilder Mix verschiedener Genres und Tonalitäten, changiert zwischen Satire und Drama ...

Bereits der Roman ist dank seines Humors so brillant, weil er sehr sarkastisch von sehr ernsten Dingen erzählt. Diesen schnellen, witzigen Tonfall der ersten Hälfte wollten wir auch im Film erzeugen, der dann in der zweiten Hälfte aus dem Gleichgewicht gerät und viel düsterer wird.

Auch in früheren Filmen wie „99 Homes“ oder „Um jeden Preis“ hatten Sie immer wieder ambivalente Protagonisten. Was interessiert Sie an solchen Charakteren?

Den roten Faden, den ich sehe, von meinem Debüt Strangers (2000) über die erwähnten Filme bis hierher: Es sind alles Geschichten von Immigranten, Arbeitern, Leuten aus der Unterschicht, von Menschen, die man sonst selten in Filmen sieht. Wer erzählt aus der Sicht von Lohnarbeitern und Bediensteten in Indien? Mich interessiert ein möglichst authentischer Blick, keine Bollywood-Version, bei der sich alles singend und tanzend im Happy End auflöst. Mich interessieren die sozioökonomischen Kräfte, unter denen die Mehrheit der Menschen leidet, deswegen handeln meine Filme von Figuren, die versuchen, in diesen Verhältnissen zu überleben.

In „Der weiße Tiger“ geht es sehr spezifisch um das Kastensystem in Indien, aber auch grundsätzlich um die Ausbeutung im Kapitalismus und Neoliberalismus. Was wollen Sie damit beim globalen Netflix-Publikum erreichen?

Die Frage ist ein bisschen vertrackt, weil ich mich nicht als Botschafter verstehe. Ganz ehrlich, ich hoffe vor allem, die Zuschauer fühlen sich von Balram und seiner Geschichte gut unterhalten. Aber ich kann mir vorstellen, wie ein Uber-Fahrer in New York oder jemand, der Essen liefert, das auf einem Smartphone bestellt wurde, auf den Schluss des Films reagiert. Und vielleicht denkt jemand bei der nächsten App-Order kurz daran, unter welchen Umständen die Person lebt, die auf Tastendruck Ware bis an die Haustür bringt. Welche Rechte hat sie? Die Wut über diese Ungerechtigkeiten, die auch unter der Oberfläche meines Films brodelt, spürt man gerade an vielen Orten dieser Welt.

Ihr Film startet unmittelbar nach Joe Bidens Amtsantritt als US-Präsident. Was sind Ihre Hoffnungen?

Ich bin natürlich heilfroh, dass Trump weg ist. Aber um ehrlich zu sein, sind die Demokraten und Biden auch nicht die Lösung aller Probleme. Seine Partei hat sich in den letzten 40, 50 Jahren nicht wirklich für die Arbeiterklasse eingesetzt. Auch weltweit haben sie mit ihrer Außenpolitik nicht viel Gutes erreicht. Die Ereignisse im Kapitol bei der Abstimmung Anfang Januar waren tragisch und sehr, sehr beängstigend. Ich musste unwillkürlich an den Militärputsch 1953 im Iran denken, als der demokratisch gewählte Premierminister gestürzt wurde – mithilfe der Amerikaner und der Briten, die die Ölvorkommen des Landes stehlen wollten. Zugleich setzte Außenminister Mike Pompeo Kuba wieder auf die Terrorliste. Diese Scheinheiligkeit macht mich wütend, so lächerlich und unglaublich ist sie. Bin ich mit dem Regierungswechsel optimistischer? Ich würde lügen, wenn ich Ja sagte.

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