„Es geht um Liebe“

Interview François Ozons „Sommer 85“ blickt zurück und fällt wegen der Pandemie gleich in doppelter Hinsicht aus der Zeit
Ausgabe 27/2021

In sonnig-flirrenden Bildern erzählt François Ozon in Sommer 85 von der bittersüßen ersten Liebe zweier Jungs, die in der Normandie der 1980er einige aufregende Wochen zusammen verbringen. Ozon erfüllte sich mit der Romanverfilmung einen Jugendtraum. Ein Gespräch über große Gefühle, die Macht der Erinnerung und künstlerisches Schaffen als Therapie.

der Freitag: Ihr Spielfilm „Sommer 85“ beruht auf dem Jugendroman „Tanz auf meinem Grab“ von Aidan Chambers. Sie selbst haben den Roman mit 17 gelesen, Sie waren also etwa im selben Alter wie die beiden Protagonisten. Welchen Eindruck hat die Geschichte damals bei Ihnen hinterlassen?

François Ozon: Ich erinnere mich, dass ich sehr beeindruckt war, wie offen der Roman von der Liebe zwischen zwei Jungs erzählte. Schwule Geschichten waren damals meistens voller Scham und Schuld, gleichzeitig wurde unser eigenes, gerade erst beginnendes Leben von AIDS überschattet. Das Buch war da wie ein Sonnenstrahl, es war witzig und berührend. Und mir gefiel, dass es nicht um Homosexualität als Thema ging, sondern dass es einfach eine Liebesgeschichte war, nur eben zwischen zwei Jungs. Ich stellte mir damals schon vor, daraus meinen ersten Film zu machen …

Wie sehr unterschied sich Ihre Erinnerung an den Roman von der Relektüre über drei Jahrzehnte später?

Ich hatte mit etwa 18 Jahren sogar schon mal ein Drehbuch dazu geschrieben, damals erzählte ich die ganze Geschichte streng chronologisch, ließ viele Szenen mit den Eltern und den Lehrern weg und konzentrierte mich ganz auf die Romanze. Erst als ich es vor drei Jahren erneut las, wurde mir klar, wie gut die Struktur des Romans funktioniert. Er ist wie ein Puzzle aufgebaut und man versteht erst nach und nach, was passiert ist. Und mir gefiel, dass es aus der Sicht von Alex, dem jüngeren der beiden, erzählt ist.

Zugleich ist es ein Drama mit Thrillerelementen, der Film handelt von erster Liebe ebenso wie von Verlust und Trauer, oft mit großer Geste. Keine ganz einfache Gratwanderung, oder?

Ich war von einem Gedanken geleitet: Ich wollte genau den Film machen, den ich selbst mit 17 Jahren hätte sehen wollen. Das mag irritierend sein, aber so ist es in der Jugend: in einem Moment großes Drama, im nächsten lacht man schon wieder. Und so hat auch jede Szene einen anderen Tonfall, ich scheute mich nicht vor Extremen, für mich fühlte sich das ganz natürlich an. Auch als Teenager fühlt man sich an einem Tag wie in einem Spielberg-Spektakel und am nächsten Tag wie in einem Melodram von Fassbinder.

Zur Person

Foto: E-Press Photo.com/IMAGO

François Ozon, 1967 geboren, wuchs in Paris auf, studierte an der dortigen Filmhochschule La Femis Regie. Nach seinem Debüt Sitcom 1998 wurde er mit preisgekrönten Filmen wie 8 Frauen, Die Zeit die bleibt und Frantz zu einem der international erfolgreichsten Regisseure Frankreichs.

Alex kann lange nicht über das Erlebte sprechen und wird von seinem Lehrer ermuntert, darüber zu schreiben. Sehen Sie sich ein Stück weit in dieser Figur? Ist Filmemachen Ihre Art, Erlebtes zu verarbeiten?

Kunst kann wie Therapie sein. Alex wird durch die Erlebnisse zum Schriftsteller. Mir gefällt aber auch, dass wir alles von ihm erzählt bekommen. Ist das die Realität? Oder seine Fantasie? Die Jugend ist der Moment, in dem sich vieles als Illusion erweist und man feststellt, dass der Traumprinz gar nicht existiert. Aber das habe ich damals nicht gesehen, als ich den Roman las. Ich brauchte die Distanz, musste ein bisschen erwachsen werden, um die Geschichte zu erzählen.

Alex sagt am Ende, es sei wichtig, seiner Geschichte zu entfliehen.

Es ist auch der letzte Satz im Roman und sehr ambivalent. Für mich hat es viel mit Herkunft zu tun. Alex kommt aus der Arbeiterklasse, aber durch die schwierigen Erlebnisse entdeckt Alex sein Talent zum Schreiben und seine Sexualität. Der Film handelt also auch von der Freiheit, sich selbst und den eigenen Weg zu finden. Auch wenn es mühsam ist und weh tut.

Der Film entstand vor der Pandemie, sollte bereits vor einem Jahr auf dem dann abgesagten Filmfest in Cannes laufen und startet jetzt nach dem Ende eines langen Lockdowns. Er wirkt nun im doppelten Sinn wie aus einer anderen Ära.

Es herrscht eine gewisse Nostalgie, als wären die Achtziger paradiesische Zustände gewesen. Das waren sie keineswegs. Schon damals waren wir von einer Pandemie betroffen, von AIDS, und der Roman ist zwar davor entstanden, wurde in der Gay Community aber Kult, weil er mit seiner Auseinandersetzung um Liebe, Sexualität und Tod wie eine Allegorie verstanden wurde. Ich habe auf echtem 16-mm-Film gedreht und nicht digital, um die Sensualität dieser vergangenen Zeit aufleben zu lassen. Es war sehr ungewohnt, weil es körniger, nicht so gestochen scharf wie digitale Bilder ist. Auch die Farben sind andere, aber in meinen Augen funktioniert es genau deswegen so gut.

Wie haben Sie das letzte Jahr erlebt?

Es war ein erzwungenes Innehalten, das mir gutgetan hat. Aber ich habe letzten August auch schon wieder gedreht, der neue Film hat jetzt Premiere in Cannes. Ich kann mich wirklich nicht beklagen.

Große Teile des Kultursektors haben stark unter dem Lockdown gelitten. Machen Sie sich Sorgen um das Kino?

Natürlich frage ich mich, ob wir die jüngeren Generationen an die Streamingplattformen verlieren, aber in Frankreich hat das Kino große Widerstandskraft und erreicht viele Menschen. Ich mache keine Filmkunst für Cinephile, sondern für ein breites Publikum, und ich werde weiter Filme für die Leinwand machen, solange es geht.

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