Filmfestspiele Venedig: Timothée Chalamet überwindet jede Grenze
Kino Bei den Filmfestspielen in Venedig ist der Blick auf den Roten Teppich endlich wieder frei und das Kino feiert ein Comeback mit Stars und starken Filmen über Außenseiter
Timothee Chalamet auf dem Roten Teppich in Venedig
Foto: Vittoro Zunino/Getty Images
„Timothée, komm Pasta essen mit mir“ steht auf dem handgemalten Schild einer Teenagerin, die auf dem Lido von Venedig auf ein Wunder wartet. Sie ist hier, wie Dutzende andere, um einen Blick auf ihren Schwarm zu erhaschen, den 26-jährigen Hollywoodstar Timothée Chalamet. Der sorgt seit der Sommerromanze Call Me by Your Name vor fünf Jahren bei jedem Auftritt zuverlässig für jugendliche Hysterie. Dafür harren die Mädchen, und auch ein paar Jungs, stundenlang in der prallen Spätsommersonne aus, einige sitzen unter Regenschirmen auf dem Boden, manche haben sogar in Schlafsäcken übernachtet, um sich die besten Plätze zu sichern. Bis zur Premiere von Chalamets neuem Film Bones and All sind es noch Stunden. Aber sie wissen,
en. Aber sie wissen, ihre Chancen stehen nicht schlecht.Zwei Pandemie-Ausgaben lang war der rote Teppich durch eine hohe Wand abgeschirmt, nur eine Handvoll Fotografen war auf der anderen Seite zugelassen. Auch vor einem Jahr, als Chalamet zur Weltpremiere des Blockbusters Dune hier war und die Fans das Geschehen vor dem Festivalpalast nur auf einem großen Bildschirm verfolgen konnten. Bis ihr Idol dann einfach über die Absperrung kletterte und ihnen unverhofft nahe kam. Nun ist der Blick wieder ganz frei, und zwischen den Kids und dem Teppich sind es nur ein paar Meter. Auch diesen Abstand wird Chalamet später am Abend überwinden, Autogramme geben und für Selfies posieren und so für einen Ausnahmezustand sorgen, der in seiner lang vermissten Selbstverständlichkeit fast nostalgisch wirkt.„Bones and All“ von Luca GuadagninoEingebetteter MedieninhaltVon einer dramatischen Jugendliebe handelt auch Bones and All, den Chalamet hier vorstellt, zusammen mit seinem Call-Me-by-Your-Name-Regisseur und Mentor Luca Guadagnino. Aber nicht nur mit Herzschmerz und ein bisschen Haut, sondern buchstäblich mit Fleisch und Knochen. Basierend auf dem gleichnamigen Roman der US-Autorin Camille DeAngelis erzählt das romantische Horrordrama von Maren (Taylor Russell), die mit ihrem kannibalistischen Trieb hadert und auf ihrer Identitätssuche Gleichgesinnten begegnet, darunter dem von Chalamet gespielten Lee, mit dem kurz so etwas wie Glück möglich scheint.Guadagnino inszeniert Coming-of-Age als Roadmovie durch den Mittleren Westen der 1980er, mit Anleihen bei Badlands und My Private Idaho, ohne dem Genre formal viel Neues abzugewinnen. Zumindest thematisch ist Bones and All aber einer der radikaleren Beiträge im Programm des ältesten Filmfestivals der Welt, das dieses Jahr großes Starkino, aber auch immer wieder Geschichten von Outsidern, Grenzgängen und Rebellinnen präsentiert.Netflix-Filme „Weißes Rauschen“, „Bardo“ und „Athena“Die ersten Tage des Festivals wurden von Netflix dominiert. Kaum ein Tag, an dem nicht das Logo mit dem roten N auf der Leinwand leuchtet. Gleich der Eröffnungsfilm, Weißes Rauschen von Noah Baumbach nach dem Roman von Don DeLillo, ist ein wilder Ritt durch die Medienhysterie der 1980er Jahre, mit deutlichen Anspielungen auf die Gegenwart. Bardo von Alejandro González Iñárittu beginnt als Schelmenstück aus der Sicht eines nicht immer glaubwürdigen Filmemachers und findet mit großem visuellen Ausdruckswillen surreale Bilder, verliert sich aber letztlich in selbstmitleidiger Nabelschau. Mit kraftmeierischen Bildern trumpft auch Athena von Romain Gavras auf, der seinem berühmten Vater Costa-Gavras in Sachen Politkino nacheifert und den Bürgerkrieg in einer fiktiven Banlieue von Paris als Brüderdrama mit den Mitteln der griechischen Tragödie erzählt. Mit viel Pathos und minutenlangen, scheinbar ungeschnittenen Sequenzen, die das Publikum mitten in die Schlacht ziehen sollen. Doch so sehr können sie mit ihrer Wucht gar nicht bannen, dass einem die unzähligen Ungereimtheiten und die Figuren als reine Funktionsträger nicht um die Ohren fliegen.„The Whale“ von Darren AronofksyEin Spektakel ganz anderer Art serviert Darren Aronofksy, der mit The Wrestler 2008 den Goldenen Löwen gewonnen und damit Hauptdarsteller Mickey Rourke aus der Versenkung geholt hatte. Sein neuer Film The Whale ist eine Art Bruderstück dazu, ein Kammerspiel über einen Mann, der sich nach dem Suizid seines Geliebten schier zu Tode frisst. Verkörpert wird dieser kaum noch bewegungsfähige Fleischklops von Brendan Fraser, der nach Blockbustern wie Die Mumie Opfer eines sexuellen Übergriffs wurde, unter Depressionen litt und sich fast vollständig aus dem Filmgeschäft zurückgezogen hatte. So soll der Film auf der Metaebene zum uramerikanischen Mythos einer Wiederauferstehung taugen, bleibt aber in seiner rührseligen Erzählung einer Vater-Tochter-Annäherung billiges Theater mit schlagenden Türen und bedeutungsschweren Dialogen. Die zentrale Figur, mit Maske und Prothesen auf Preisverleihung getrimmt, berührt nicht, weil hier Emotion mit Exploitation verwechselt wird. Bei der Vorstellung gab es dennoch langen Applaus.„Master Gardener“ von Paul SchraderWirklich schlau wird man auch aus der Männerstudie Master Gardener von Altmeister Paul Schrader nicht, dem auf dem Festival ein Preis für sein Lebenswerk verliehen wurde, zu dem auch das Drehbuch von Taxi Driver zählt. Der Gärtner (Joel Edgerton) in seinem neuen Film ist ein typisch Schrader’scher Büßer und Einzelgänger, der sich ganz in die akkurate Botanik eines Südstaaten-Anwesens vergräbt, um in einem Zeugenschutzprogramm seine eigene Neonazi-Vergangenheit hinter sich zu lassen. Doch sein Tattoo-übersäter Körper spricht eine andere Sprache, und das lässt sich nicht länger unter der hochgeschlossenen Arbeitskluft verbergen, als sich die PoC-Großnichte Maya (Quintessa Swindell) der Gutbesitzerin (Sigourney Weaver) auch romantisch für ihn zu interessieren beginnt. Mit analytischer Kälte fragt Schraders Film, inwieweit Vergebung möglich ist, doch die Figurenkonstellation bleibt letztlich unglaubwürdig.„Argentinien, 1985“ von Santiago MitreWeit weniger umstritten war das Politdrama Argentinien, 1985 von Santiago Mitre, das fulminant den ersten großen Prozess gegen die Befehlshaber der Militärjunta thematisiert, der zwischen 1976 und 1983 30.000 Menschen zum Opfer fielen. Mitre zeigt die Ermittlungen der beiden Staatsanwälte und ihres ebenso engagierten wie unerfahrenen Teams in einer geschickten Mischung aus Gerichtsthriller und Drama mit situationskomischen Momenten. Von den 833 dokumentierten Zeugenaussagen beschränkt sich Mitre auf einige wenige, die er in all ihrer Wucht präzise im realen Gerichtssaal von damals nachstellt. Und das Buenos Aires der 1980er Jahre wirkt nicht wie historisches Ausstattungskino, sondern bis in die fahlen Farben hinein authentisch. Der Film hat durchaus Chancen auf eine Auszeichnung, wenn die Jury darüber hinwegsehen kann, dass es sich dabei um eine Amazon-Produktion handelt.„Tár“ von Todd FieldAls preiswürdig dürfte sich am Samstagabend auch Todd Fields Tár über eine fiktive Dirigentin der Berliner Philharmoniker erweisen, Lydia Tár, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere ins Straucheln gerät, von Cate Blanchett ebenso intensiv wie nuanciert verkörpert. Fields Drama ist ein faszinierender Blick hinter die Kulissen des Klassikbetriebs und findet mit einer weiblichen Hauptfigur nicht bloß einen neuen Dreh in der Debatte um #MeToo, sondern schafft dadurch einen weniger voreingenommenen und sehr vielschichtigen Blick auf institutionelle Strukturen und menschliche Schwächen.„L’immensità“ von Emanuele CrialeseMit einem weiblichen Weltstar wirbt auch L’immensità des Italieners Emanuele Crialese, und tatsächlich ist Penélope Cruz erneut herausragend als freiheitsliebende Ehefrau und Mutter, die unter der Lieblosigkeit ihrer Ehe im Rom Ende der 1970er Jahre leidet. Doch das eigentliche Zentrum des Films ist ihr ältestes Kind, Adri, das früh formuliert, dass es sich als Mädchen im falschen Körper fühlt. Voller Zuneigung und Feingefühl erzählt Crialese diese Identifikationssuche, als es in der italienischen Gesellschaft noch keine Worte jenseits binärer Geschlechter gab. Nur im Schwarz-Weiß-Fernsehen singt und tanzt Discodiva Raffaela Carrà aus einer anderen Welt, frei von moralistischer Bevormundung. In einer der schönsten Szenen imaginiert Andrea seine Mutter als Raffaela und sich selbst als Adriano Celentano, zusammen singen sie Prisencolinensinainciusol. Crialese findet hier ein mitreißendes Bild für die Kraft der Popkultur, die Andersartigkeit zu feiern und die Fesseln der Normalität für einen kurzen Moment abzustreifen.„Blue Jean“ von Georgia OakleyAuch anderswo musste queeres Leben in früheren Jahrzehnten oft heimlich geführt werden. Zwei Filme in Nebensektionen machten einige dieser Biografien sichtbar. Der Spielfilm Blue Jean der britischen Regisseurin Georgia Oakley handelt von einer lesbischen Sportlehrerin, die im homophoben Thatcher-England Ende der 1980er ein Doppelleben führen muss.„Casa Susanna“ von Sébastien LifshitzDer Franzose Sébastien Lifshitz spürt in seinem Dokumentarfilm Casa Susanna der Geschichte eines Hauses am Rand der Catskills nach, das in den 1950er und 1960er Jahren als heimlicher Safe Space für Crossdresser und trans Frauen fungierte. Er fand zwei der noch lebenden Ex-Mitglieder und verbindet ihre Erinnerungen mit verschollen geglaubten Aufnahmen von damals zu einer späten Würdigung eines kaum bekannten Kapitels queerer Geschichte.„All the Beauty and the Bloodshed“ von Laura PoitrasUnd noch eine widerspenstige Heldin ist zu entdecken: in Laura Poitras’ Dokumentarfilm All the Beauty and the Bloodshed über die Prostete gegen die Pharmaunternehmerfamilie Sackler, die mit Opioid-Medikamenten Milliarden verdient hat. Auch die Fotografin und Künstlerin Nan Goldin war abhängig und kämpft seit Jahren mit Aktivist*innen dafür, dass zumindest der Name der Sacklers als Sponsoren in wichtigen Museen getilgt wird. Poitras verschränkt die Gegenwart mit Goldins Vergangenheit, dem Suizid ihrer Schwester und dem Act-Up-Protest in der Hochphase der Aids-Pandemie, der ein Großteil von Goldins Freundeskreis zum Opfer fiel. Wie unverdrossen sie nun erneut kämpft und wie unverstellt und intim sie zugleich spricht, gehört zu den Eindrücken dieser Biennale, die lange nachhallen.
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