Historie für heute

Film Über Roman Polanski wird heftig debattiert. Seine Verfilmung der Dreyfus-Affäre ist Favorit bei den Césars
Ausgabe 06/2020

Es beginnt mit einer Erniedrigung in aller Öffentlichkeit. Unter den Augen Hunderter stramm stehender Kameraden und Vorgesetzter ebenso wie eines feindlich gaffenden Pöbels wird am 5. Januar 1895 Hauptmann Alfred Dreyfus (Louis Garrel) auf dem Hof der Armeehochschule in Paris militärisch degradiert. Die Epauletten seiner Uniform werden ihm abgerissen, sein Säbel zerbrochen. Dreyfus protestiert hilflos und behält nur mit großer Mühe die Contenance angesichts dieser haltlosen Demütigung.

Es ist der Endpunkt einer anhaltenden Kampagne gegen den aus dem Elsass stammenden jüdischen Soldaten. Unter fadenscheinigen Begründungen ist er der Spionage für das Deutsche Reich bezichtigt und von einem Kriegsgericht trotz kläglicher Beweislage des Landesverrats schuldig gesprochen worden. Er soll auf die Teufelsinsel vor der Küste Südamerikas deportiert werden. Und zugleich ist es die erste Szene von Intrige, dem neuen Film von Roman Polanski, in dem der Regisseur schmerzhaft genau seziert, wie eine Mischung aus Gerüchten, Verleumdung und unverhohlenem Antisemitismus einen Unschuldigen zugrunde richtet.

Ein Sündenbock muss her

Intrigen sind immer auch eine Frage der Perspektive. Wer ist Handelnder, wer blickt mit welchen Intentionen auf das Geschehen und welche Konsequenzen hat das? Polanski erzählt, und das ist die essenzielle inszenatorische Entscheidung, das Politdrama nicht aus der Sicht von Alfred Dreyfus, sondern der Film schildert aus der Perspektive von Oberstleutnant Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin), einem aufstrebenden Armeeoffizier, dem kurz nach Dreyfus’ ritueller Bloßstellung die Leitung des Geheimdienstes übertragen wird. Während er sich in die schwer zu durchschauenden Strukturen einarbeitet, stößt er schnell auf Hinweise im Fall Dreyfus, die den Verurteilten entlasten. Doch weder in den Führungsebenen von Militär noch der Regierung will man davon etwas wissen, zu gut passt der Jude als Sündenbock. Und schnell sieht sich Picquart selbst inmitten einer Intrige, die vertuschen soll, was an Lügen und Manövern bereits geschehen ist.

Dieser Georges Picquart ist als Figur auch deshalb hochinteressant, weil er sich einerseits klar als „antisemitisch gestimmt“ zu erkennen gibt, seine Wertvorstellungen und Prinzipientreue ihn aber dazu veranlassen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Dass er die Moral dabei bisweilen zu seinen Gunsten auslegt, wenn er etwa eine heimliche Beziehung zu einer verheirateten Frau (Emmanuelle Seigner) unterhält, lässt ihn in seiner Widersprüchlichkeit sehr menschlich erscheinen.

Schließlich wird der angesehene Schriftsteller Emile Zola auf den Fall aufmerksam und klagt die Korruption in einem Zeitungsartikel an, der nicht nur Frankreichs Regierung seiner Zeit erschüttert und die Gesellschaft wachrüttelt. Der Text ging mit seiner Schlagzeile „J’accuse“ („Ich klage an“) längst in die Geschichte ein und gilt als Paradebeispiel für engagierten Journalismus.

So spezifisch verankert, genau recherchiert und exakt dargestellt Intrige auch die Dreyfus-Affäre und damit die Spaltung der französischen Gesellschaft vor 125 Jahren verhandelt, verweist der Film doch klar auf unsere Gegenwart, in der Antisemitismus immer unverhohlener zutage tritt, in Frankreich, vor allem aber auch in Deutschland. Die Verweise auf Ressentiments und Populismus, den Einfluss von Fake News und das Erstarken von Trollen und Mobbing – nicht zuletzt die Krise der Demokratie selbst – sind subtil, aber deutlich erkennbar.

Polanski inszeniert das klassisch, unaufgeregt, mit bis ins kleinste Detail präzisen Bildern (Kamera führt erneut der brillante Pawel Edelman) und mit einer bis in Nebenrollen exzellent besetzten Darstellerriege. Dem Drehbuch, zusammen mit Robert Harris geschrieben, basierend auf dessen exzellent recherchiertem Tatsachenroman, gelingt eine klar strukturierte und spannend erzählte Fokussierung der komplexen Verstrickungen der Affäre, die nüchtern rekonstruiert wird. Das Historiendrama bezieht dabei klar und deutlich Position und benennt die antisemitischen Motive, die hier mit Ignoranz und Dummheit, Schludrigkeiten und böswilligem Vorsatz eine unheilvolle Allianz eingehen.

Ein Bärendienst

Seit der Weltpremiere beim Filmfest in Venedig im vergangenen September flammt im Zuge von #Metoo und den seit Jahren bestehenden Vergewaltigungsvorwürfen gegen Polanski erneut eine Debatte über Werk und Autor auf. Darf man zwischen ihnen trennen, muss man womöglich? Polanski macht es einem da nicht einfach, wenn er sich in einem langen Interview selbst mit Dreyfus vergleicht, weil auch er zum einen eine Weile von der Presse verdächtigt wurde, 1968 seine damalige Lebensgefährtin Sharon Tate ermordet zu haben, und 1977 ins französische Exil floh, um so der Anklage wegen der Vergewaltigung einer 13-Jährigen zu entgehen. Sich jedoch mit Dreyfus auf eine Stufe zu stellen, ist gelinde gesagt vermessen und erweist dem Film einen Bärendienst.

Jurypräsidentin Lucretia Martel hatte sich in Venedig bereits vorab gegen Polanski positioniert, am Ende wurde der Film dennoch mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Nun geht er mit zwölf César-Nominierungen als Favorit ins Rennen um den französischen Filmpreis, also in dem Land, in dem Intrige angesiedelt ist, Polanski mittlerweile lebt und das derzeit nicht nur verspätet ebenfalls über sexuelle Übergriffe in der Filmbranche und anderen Kulturbereichen diskutiert, sondern auch über erneut erstarkenden Antisemitismus. Wie Intrige hierzulande rezipiert wird, ist noch fraglich. Was sich an diesem Fall eines umstrittenen Regisseurs aber eben auch zeigt, ist, wie falsch es wäre, Intrige mit der Person Polanski zusammen zu verurteilen. Man mag von dem Mann und seiner Vergangenheit halten, was man will. Sein Film ist unbestreitbar ein künstlerisch herausragendes, politisch relevantes und gesellschaftlich dringend notwendiges Werk.

Info

Intrige Roman Polanski Frankreich/Italien 2019, 132 Minuten

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