„Sick of Myself“ von Kristoffer Borgli: Ätzende Sozialkritik
Kino In Kristoffer Borglis Regiedebüt „Sick of Myself“ tut eine Frau wirklich alles, um beachtet zu werden. Über einen gnadenlosen Blick auf die Sucht unserer Zeit
Bis bei Signe (Kristine Kujath Thorp) die drastischen Nebenwirkungen eines russischen Medikaments einsetzen, dauert es eine ganze Weile
Foto: Oslo Pictures
John Waters hat den norwegischen Film Sick of Myself im Dezember mit den Worten „Schön? Schön? Schön abgefuckt!“ in seine Jahresbestenliste gewählt – und das mit gutem Grund. Die Horrorfarce hat mehr als eine Ähnlichkeit mit Waters’ Trashmeisterwerk Female Trouble aus dem Jahr 1974, in dem die 300-Pfund-Dragqueen Divine als Kleinkriminelle Dawn Davenport nach einer Säureattacke mit entstelltem Gesicht zur berüchtigten Berühmtheit wird, die über Leichen geht. Und was der Papst des ausgewählt schlechten Geschmacks gut findet, kann zumindest nicht ganz lahm sein.
Vom ersten Moment an stimmt etwas nicht in Kristoffer Borglis Regiedebüt. Signe (Kristine Kujath Thorp) und Thomas (Eirik Saether) feiern in einem Restaura
er) feiern in einem Restaurant Signes Geburtstag. Er bestellt eine Flasche Rotwein für 2.300 Dollar, besteht darauf, sie selbst einzuschenken. Beide sind dauernd darauf bedacht, wie die anderen Gäste sie wahrnehmen und wie ihr Auftritt auf den sozialen Medien rüberkommt. Ihre toxische Beziehung läuft schon eine Weile, sie jobbt noch immer im Coffeeshop, er macht in Kunst. Die besteht darin, Designermöbel zu klauen, die er dann zu Skulpturen zusammensetzt. Damit ist er bald so gefragt, dass er in Kopenhagens angesagtester Galerie ausstellen darf und ein Trendmagazin eine Homestory über ihn macht.Signe vermisst die ihr gebührende Beachtung und reagiert zunehmend neidisch. Als eine Frau vor ihrem Laden von einem Hund angefallen und schwer verletzt wird, leistet Signe Erste Hilfe. Blutüberströmt gilt ihr plötzlich alle Aufmerksamkeit, von den Umstehenden, von der Polizei und später auch vom Freundeskreis, in dem man sich endlich nicht mehr nur nach Thomas’ Kunst erkundigt. Sie kommt auf den Geschmack. Mit immer wilderen Details schmückt sie ihre Geschichte aus. Doch dann geht es beim Vernissagedinner doch wieder nur um ihn. Kurzerhand täuscht sie eine schwere allergische Reaktion vor, sie hustet und röchelt, kollabiert mit dem Kopf auf dem Tisch. Große Performancekunst.Soziopathologischer SerienunfallDer Fokus von Borglis „unromantischer Komödie“ liegt vor allem auf Signe, doch in Sachen hohler Narzissmus steht sich das Paar in nichts nach, sie stacheln sich gegenseitig hoch in ihrer Sucht nach Rampenlicht und öffentlicher Anerkennung. Sympathisch sind beide nicht, es ist vor allem ein Fremdschämen und die Faszination, Zeuge von so etwas wie einem soziopathologischen Serienunfall zu sein.Denn die Situationen eskalieren, Signe greift zu immer drastischeren Mitteln. Der Versuch, einen angeleinten Hund so zu provozieren, damit er ihr auch eine spektakuläre Bisswunde zufügt, scheitert noch kläglich. Bei ihrer Googlesuche stößt sie auf ein russisches Medikament, ein Beruhigungsmittel mit drastischen Nebenwirkungen, von denen ein Hautausschlag noch das Harmloseste ist. Ihren Dealer, ein armes Würstchen, das noch bei Mutti wohnt, bedrängt sie, ihr das Zeug zu besorgen. Die ersten Tage wird sie von den Tabletten so bedröhnt, dass sie ständig wegdämmert. Bis es endlich zu jucken beginnt, erst am Arm, dann am Hals. Eine bewusst eingeworfene Überdosis sorgt schließlich für derartige Schwellungen und Geschwüre im Gesicht, dass sie in die Notaufnahme muss. Endlich steht sie voll im Mittelpunkt, bekommt Mitleid und Zuwendung. Und sie sorgt dafür, dass es so bleibt, drängt ihre Freundin Marte, über ihre mysteriöse Krankheit und heroischen Leidensweg zu berichten.Eingebetteter MedieninhaltDas Ringen und gegenseitige Neiden des Paares beginnt nun erst richtig. Als Signe den Artikel auf ihrem Smartphone sieht, bittet sie Thomas nachzuschauen, ob er schon erschienen ist, ihr Akku sei leer. Widerwillig scrollt er durch die Website, doch eine Meldung über einen Mann, der Frau und Kinder erschossen hat, hat Signe von der Top-Position verdrängt. Sofort greift sie zum Hörer und bedrängt ihre Freundin, sie wieder prominenter zu platzieren, vergeblich. Doch so schnell gibt sie nicht auf. Als Elefantenfrau der Inklusionsära wird sie schließlich Model, kommt aber gleich zum ersten Dreh für den Werbeclip eines nonbinären Klamottenlabels zu spät. Um doch noch eingesetzt zu werden, sperrt sie das zweite Model, eine junge Frau mit einem deformierten Arm, kurzerhand im Klo ein. Auf dem Markt der Aufmerksamkeiten kann man sich keine Solidarität leisten.Die Folgen ihres Medikamentenmissbrauchs setzen sich ungebremst fort, bald fallen ihr büschelweise Haare aus, sie spuckt Blut, was sie verzweifelt zu vertuschen versucht. Zugleich verstrickt sie sich immer weiter in Lügen, oft scheint sie selbst nicht mehr sicher, was tatsächlich passiert und was sie sich nur einbildet. Ihr Realitätsverlust überträgt sich bald auf den Film selbst und damit auf das Publikum.Ätzender als Ruben ÖstlundIn seiner Sozialkritik erinnert Sick of Myself an Ruben Östlunds Filme. Wie Östlund ist auch Borgli kein Freund des subtilen Witzes, Sick of Myself ist dezidiert drüber und spiegelt so das aufdringlich Plakative seines Gegenstands. Zugleich ist er ätzender, weniger albern und in seiner galligen Gnadenlosigkeit und seinem Bodyhorror auf gute Art verstörend.In John Waters’ Female Trouble endet Dawn Davenports radikale Karriere gegen alle Konventionen konsequent auf dem elektrischen Stuhl. Ein halbes Jahrhundert später ist Signe im Zeitalter narzisstischer Selbstinszenierung kein Einzelfall, sondern ein Symptom unter vielen. Sie landet mit Gleichgesinnten in der Gruppentherapie.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.