Der Napf des alten Wang bleibt leer

Chinesische Zeiten Finn Mayer-Kuckuk über die Digitalisierung von Almosen in Peking
Ausgabe 43/2018
Mit der Dose allein ist im China kaum noch etwas zu holen
Mit der Dose allein ist im China kaum noch etwas zu holen

Foto: Lintao Zhang/Getty Images

Keinen Barcode zu haben, das ist für Bettler in China – richtig doof. „Ich bekomme merklich weniger“, klagt der alte Wang. „Viele Leute, die ich bittend ansehe, zeigen einfach entschuldigend auf ihr Handy.“ Wang sitzt im Stadtteil Sanlitun im Osten Pekings, in einer Seitenstraße an die Hauswand gelehnt, und hat einen alten Blechnapf vor sich gestellt.

Wang hatte auf der Baustelle einen Arbeitsunfall. Er verdient kein Geld mehr, hat keine Verwandten, auf die er sich verlassen kann, keine Rente. Und er ist einer der wenigen Chinesen, die kein Smartphone haben. Das ist ein Problem. Denn junge Leute nehmen hier kein Portemonnaie mehr mit aus dem Haus. Sie können überall mit Apps bezahlen. Nur eben nicht bei Herrn Wang.

Mobiles Bezahlen hat sich in China zwischen 2014 und 2016 flächendeckend durchgesetzt. Es gibt zwei konkurrierende Anbieter, jeder Smartphone-Nutzer hat die App von einem der beiden installiert. Die Abwicklung läuft schnell und praktisch über Barcodes, Systemausfälle sind fast unbekannt.

700 Millionen Menschen besitzen hier ein Smartphone, in den Städten liegt die Quote praktisch bei 100 Prozent. Deshalb sind viele Bettler auch längst besser ausgestattet als der alte Wang. Nur wenige Schritte von dessen Stammplatz entfernt spielt ein blinder Musiker auf einer Fußgängerbrücke die Kniegeige. Das ist eigentlich ein schwieriges Instrument, das meist jaulende und jammernde Töne von sich gibt. Dieser Musiker beherrscht es immerhin so gut, dass er an dieser belebten Stelle ein vergleichsweise gutes Geschäft macht.

Er hat eine Karte mit einem Ausdruck seines Bezahl-Barcodes vor sich stehen und, alternativ, einen Becher für Bargeld. Wenn man ihm einige Minuten zusieht und zuhört – wer sich daran gewöhnt, findet die Kniegeige dann vielleicht doch nicht ganz so schrecklich –, fällt auf: Seine Almosen sind fast vollständig digitalisiert. Fragen kann ich ihn nicht, denn er hört von morgens bis abends nicht auf zu fiedeln. Ich gebe ihm fünf Yuan. Per App, versteht sich.

Auch sonst will hier kaum noch einer Cash. Da muss man kopfrechnen, den Betrag überprüfen und abends soll die Kasse stimmen. Außerdem ist es unhygienisch. Neulich ging ich mit einem Besucher aus Amerika zur Apotheke – er brauchte Nachschub von seiner Allergie-Medizin. Für ihn war der Masseneinsatz des Handys als Zahlungsmittel ziemlich neu. Vor allem aber hatte er die nötigen Apps nicht auf seinem Gerät. Also zückte er Bargeld. Die Apothekerin blickte ihn und das Geld ziemlich missmutig an und klaubte mit spitzen Fingern das Wechselgeld aus einer Schublade. Mein Bekannter kam mir vor wie jemand, der in Deutschland ins Geschäft geht und mit D-Mark bezahlen will.

Fortan bezahlte ich alles für ihn einfach selbst mit meinem Handy. Am Ende seiner Reise gab er mir dafür all seine baren Yuan. Die großen Scheine zahlte ich auf das Konto ein, aus dem sich meine Apps speisen. Das Kleingeld hob ich auf.

Ich dachte daran, es für Bettler bereitzuhalten, und steckte es in meine Geldbörse. Doch die nehme auch ich kaum noch mit aus dem Haus.

Finn Mayer-Kuckuk berichtet seit 2010 als Korrespondent aus China

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