„Schämt euch niemals!“

Ungarn Mehr als 30.000 Menschen strömen zur Budapest Pride – der Zug wird zur Anklage gegen die Politik von Viktor Orbán
Ausgabe 30/2021
Noch nie war die Pride-Parade in Budapest so groß – die Stimmung ist ausgelassen, aber nicht optimistisch
Noch nie war die Pride-Parade in Budapest so groß – die Stimmung ist ausgelassen, aber nicht optimistisch

Fotos [M]: AFP/Getty Images

Die beiden 17-jährigen Mädchen sprechen wohl stellvertretend für alle hier: „Wir wollen Spaß haben, aber auch protestieren!“ Mehr als 30.000 Menschen sind am Samstag zur Budapest Pride gekommen, dem Höhepunkt des seit 1997 jährlich stattfindenden LGBT+-Festivals. Die Parade war heuer brisanter denn je, schürt die Regierung ja immer mehr homophobe Ressentiments und setzt Transgeschlechtlichkeit mit Pädophilie gleich. „Eine Schande“, nannte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das umstrittene neue Gesetz, das die Zurschaustellung von „LGBT-Inhalten“ vor Minderjährigen unter Strafe stellt. Filme wie Harry Potter dürfen seither nicht mehr tagsüber im Fernsehen gezeigt werden, Bücher mit anderen Familienbildern als Vater-Mutter-Kind müssen mit Warnhinweisen versehen werde. Eine Budapester Buchhandlung wurde bereits mit umgerechnet 700 Euro bestraft, weil sie ein Märchenbuch über eine Regenbogenfamilie ohne besondere Kennzeichnung verkauft hatte.

Vom zunehmend aggressiven Klima ist bei der Parade oberflächlich nichts zu merken. Seit Mittag strömen Tausende, darunter auch viele Ältere und Familien, zwischen die Altbauten am zentralen Madách tér. Auf dem Weg dorthin drückt ein konservativer Aktivist Menschen Bibelverse in die Hand, mit seinem Weltbild ist er hier aber in der Minderheit. Der Madách, mehr großer Innenhof als Platz, wird zum Nadelöhr. Die wenigen Schattenplätze sind längst besetzt, als pünktlich um 15 Uhr die Reden beginnen: „Auch wenn wir nicht wissen, wie düster unsere Situation noch wird: Wir werden uns später erinnern, dass wir heute hier sind“, schallt es vom Wagen an der Speerspitze der Parade. Als sich der Zug zu Queens Don’t Stop Me Now in Bewegung setzt, bricht Jubel aus, viele tanzen. Einige Schaulustige stehen wohlwollend an der Seite, Regenbogenfahnen auf Balkonen sieht man anders als in der bunten Menge aber selten – wohl, weil das Thema für viele tabu ist.

„Ich habe nichts gegen diese Leute. Jeder soll zu Hause machen dürfen, was er will“, sagt ein 57-jähriger Taxifahrer später. Die Parade sei eine gute Sache, denn die Gesellschaft dürfe sich nicht auseinanderdividieren lassen. Dass aber „im Westen“ schon „in der Volksschule über Geschlechtsumwandlungen gesprochen“ werde, findet er falsch. Er und auch andere Passanten fragen sich, ob es diese Debatten in Ungarn wirklich braucht. „Wir haben andere Probleme“, so der Taxifahrer.

So sehen das auch die Demonstrierenden, freilich aus anderem Blickwinkel. „Warum müssen wir im Jahr 2021 immer noch dafür kämpfen, gleich behandelt zu werden?“, fragt eine junge Teilnehmerin. Und gibt die Antwort darauf gleich selbst. „Weil die Regierung nach Flüchtlingen, Roma und Linken nun ein neues Feindbild braucht.“ Trotz aller Ausgelassenheit hier und heute: Der Optimismus hält sich bei vielen in Grenzen. „Solange Orbán regiert, wird es nicht besser“, sagt Zoltan, Anfang 20. Norbert, mit ihm befreundet, sieht das ähnlich, auch der angekündigte schärfere Kurs der Europäischen Union dürfte nicht viel ändern: „Selbst wenn endlich Sanktionen kommen, wird Orbán das auszubeuten wissen.“ Einig sind sich beide, dass dieses Klima die Gesellschaft krank mache.

Polen als homophobes Vorbild

Die Parade ist ein Protest gegen die zunehmende Stigmatisierung aller, die vom konservativen Geschlechter- und Familienbild der Regierung abweichen. „Orbán kopiert das Erfolgsmodell aus Polen: Mit seinem extrem homophoben Kurs hat Andrzej Duda die Präsidentschaftswahl vor einem Jahr gewonnen“, sagt Péter Krekó, Politikwissenschaftler und Leiter des Political Capital Institute in Budapest. In Polen wie in Ungarn gebe es einen „riesigen“ Teil der Wahlbevölkerung, der auf homophobe Vorurteile anspringe. „Viele sagen, privat können Homosexuelle alles machen, in der Öffentlichkeit habe das aber nichts verloren“, erzählt er. Erst die Regierung habe LGBT+ in den gesellschaftlichen Diskurs geholt, zuvor sei es, anders als im erzkatholischen Polen, ein „Nicht-Thema“ gewesen.

So sieht das auch Antoni Rita, Präsidentin des Frauenvereins Nőkért Egyesület, der Debatten und Workshops zum Thema Feminismus und Geschlechteridentität veranstaltet. „Die Mehrheit der Ungarn unterstützt LGBT+ und will in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft leben – das zeigen aktuelle Umfragen. Die Regierung handelt aber immer noch für eine radikale Minderheit“, sagt Rita. Sie betont, dass die nun geschürte Homo- und Transphobie Teil eines viel größeren Umbaus ist. Erst voriges Jahr ließ der mit einer Zweidrittelmehrheit ausgestattete Viktor Orbán in die Verfassung schreiben, dass Familien ausschließlich aus einem zwingend männlichen Vater, einer zwingend weiblichen Mutter sowie Kindern bestehen. Auch verbot die Regierung trans Menschen, ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen. Und Homosexuellen ist die Adoption von Kindern ausnahmslos verboten. Zuletzt bezeichneten Spitzenpolitiker immer öfter homosexuelle Paare mit Kinderwunsch als pädophil.

Ungarn hat auch 2014 die Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen gegen Gewalt unterzeichnet, aber bis heute nicht ratifiziert – vorgeschoben wurden „nötige Diskussionen“ und zuletzt die Corona-Pandemie. Ein anderes Beispiel ist das Verbot des Studiengangs Gender Studies im Jahr 2018. „Junge Menschen sollen möglichst nicht selbst nachdenken, wenn es nach der Regierung geht“, sagt Rita, weswegen auch Schulen keine Wahl haben, welche Lehrbücher sie verwenden. Die Schulbücher würden vom Bildungsministerium vorgegeben – entsprechend konservativ seien sie. „Auch der für Volksschüler verpflichtende Religions- beziehungsweise Moralunterricht vermittelt ein bestimmtes Bild: Dass Frauen an den Herd gehören und möglichst viele Kinder auf die Welt bringen sollen“, sagt die Aktivistin. Von der EU, in die sie früher große Hoffnungen setzte, ist sie enttäuscht. „Auch jetzt hat die EU ihre Bedenken ausgedrückt, aber so what? Orbán kann darüber nur lachen, er macht, was er will.“

Diesen Eindruck kann auch die Runde liberaler Europaparlamentarier nicht entkräften, die am Vortag bemüht über mögliche Reaktionen auf die jüngsten Entwicklungen diskutierte. Immerhin erkennen sie das Problem: „Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Worte der ungarischen Regierung Menschen töten werden“, sagt der französische EU-Abgeordnete Pierre Karleskind. „Vor 30 Jahren war Ungarn bei der Gleichberechtigung von LGBT+ weiter als Frankreich. Nun instrumentalisiert Orbán das Thema“, sagt Fabienne Keller, langjährige Bürgermeisterin von Straßburg und seit 2019 Europaparlamentarierin.

Lösungen abseits von Hoffnungen auf die kommende Wahl fand die Diskussionsrunde nicht, denn anders als Orbán halte sich die EU auch im Sanktionsverfahren an die demokratischen Spielregeln – das sei nun einmal langsam, aber alternativlos. Bis auf Weiteres dürften die EU-Milliarden, auch im Rahmen des Corona-Wiederaufbaufonds, weiterfließen. „Dass es um etwas geht, haben nun auch die Staatschefs erkannt“, findet Politikwissenschaftler Krekó. So sagte der niederländische Premierminister Mark Rutte kürzlich, mit seinem Anti-LGBT-Gesetz habe Ungarn keinen Platz in der EU. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn forderte gar eine EU-weite bindende Abstimmung über Ungarns Verbleib in der Gemeinschaft, wofür es freilich derzeit keine rechtliche Grundlage gibt. „Eines ist klar: Es gibt keine schnelle Lösung. Auch wenn rauerer Wind aus Brüssel kommt, wird Orbán ihn für sich nutzen“, sagt Krekó. Die Möglichkeit eines EU-Austritts seitens Ungarns sieht er mittelfristig nicht, zumindest solange das Verhältnis Kosten-Nutzen für Orbán stimmt – „und das tut es derzeit noch“.

Dass sich Ungarns Regierung so sehr auf das Thema LGBT+ eingeschossen hat, habe strategische Gründe, sagt Kréko. Einerseits positioniert sie sich damit für die Parlamentswahl im kommenden Frühjahr. Ebenso wolle sie von aktuellen Korruptionsskandalen und der Pegasus-Affäre ablenken, denn die ungarische Regierung ließ offenbar die Handys von Hunderten Journalisten, Oppositionellen und Aktivisten abhören. Kurz nachdem die Affäre bekannt wurde, kündigte Orbán per Video an, eine Volksabstimmung über das bereits beschlossene LGBT+-Gesetz abhalten zu wollen – spätestens wohl Anfang 2022, jedenfalls vor den ungarischen Parlamentswahlen.

Der wahre Kampf kommt noch

„Es interessiert mich nicht, ob sie nun diesen oder jenen Bereich stärker besteuern. Wenn sie aber Menschenrechte angreifen, ist mir das nicht egal“, sagt Maria, frühere Fotojournalistin und Teilnehmerin der Parade. „Natürlich“ gehe es bei alldem um die anstehende Parlamentswahl. Deshalb seien auch Politiker liberaler Parteien bei der Demo vertreten – um Stimmen zu sammeln. Die 25-jährige Esther ist wegen ihres schwulen Bruders hier. „Er fürchtet sich vor Gewalt oder dass ihn jemand erkennt und dann das ganze Dorf darüber redet“, sagt sie. Esther will ihn ermutigen, beim nächsten Mal auch selbst mitzudemonstrieren. „Für die Regierung ist es wirklich leicht, mit diesem Thema Wählerstimmen zu gewinnen. Sie zeigen nicht, wie man selbstbewusst und friedlich zusammenleben kann, sondern sie zeigen, wie man hasst.“

Marcel, 28 Jahre alt, ist schwul und zum ersten Mal bei der Pride. „Ich will zeigen, dass wir kein Mythos sind. Budapest ist zwar relativ tolerant, hier kann man in der Masse untergehen und es gibt viele junge Leute. Auf dem Land ist es aber viel schlimmer.“ Einige seiner Bekannten seien schon tätlich angegriffen worden, er bis dato noch nicht. Marcel will nun jedes Jahr zur Pride. Am Rand des breiten Museumrings sitzt Aileen, gebürtige Amerikanerin, in Großbritannien aufgewachsen und später nach Ungarn zurückgekehrt, woher ihre Großeltern stammen. „Was ich zum homophoben Kurs der Regierung sage? I don’t understand it all!“ Ein bisschen versteht sie ihn dann aber doch, sagt sie: „Um an der Macht zu bleiben, wollen die Machthaber alle anderen Gruppen ausgrenzen: von Linken bis zu Roma und Muslimen.“ Die kämpferische 64-Jährige wünscht sich, dass auch mehr Heterosexuelle – wie sie – zeigen, dass sie Freunde und Verbündete der LGBT+-Community sind.

Kurz vor der Freiheitsbrücke, 1896 als Franz-Josefs-Brücke eröffnet und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut, verlangsamt sich die Parade. Von Zäunen und Polizisten separiert, haben sich rund 50 rechtsradikale Gegendemonstranten versammelt, die Journalisten und Journalistinnen begrüßen sie prompt mit dem Stinkefinger. „Go home gays“, skandiert ihr Anführer in ein zu lautes Megafon, sowie „he-te-ro-sex-u-al“. Die Parade zieht unbeirrt weiter auf die andere Seite. Die dortige Gegendemo ist noch kleiner und ebenso abgeschirmt, die Polizei leistet ganze Arbeit – sie ist überall präsent, hält sich aber im Hintergrund.

„Schämt euch niemals dafür, wer ihr seid!“, ruft Vladimir Luxuria in die Menge, in Italien war sie die erste trans Person in einem europäischen Parlament. Auch der Budapester Bürgermeister hält eine ermutigende Rede bei der Abschlusskundgebung am Fuße des Gellértbergs. Er wolle sich als „Schild und Zielscheibe“ vor die Bewohner und Besucher seiner Stadt stellen. Allerorten müde, aber zufriedene Gesichter. Nach den Reden schallt wieder Musik aus den großen Lautsprechern, langsam löst sich die Menge auf, hinter den Absperrungen packen auch die Gegendemonstranten zusammen. Für viele der überwiegend jungen Leute geht das Feiern bis in die Nacht weiter, in den Innenstadtbars oder bei der offiziellen Afterparty etwas außerhalb. Der wahre Kampf steht wohl erst noch bevor, das wissen hier alle.

Florian Bayer ist freier Journalist und lebt in Wien. Er schreibt über Politik und Menschenrechte

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