Spiel mir das Lied vom Leben

Malawi Wie Laienschauspieler mit dem Tabu-Thema Aids-Epidemie brechen

Heute hat Charles Lizigeni sich frei genommen von den Toten und ist in die Stadt marschiert, nach Blantyre im Süden Malawis, wo auf den Straßen die Minibusse um die Wette hupen und die Menschen um die Wette betteln. In dieser Stadt spielt Charles Lizigeni Theater. Er spielt für das Leben seiner Zuschauer.

In seinem Dorf Manase gehört der 24-Jährige zu den Adzukulu, den jungen Männern, die sich - freiwillig und unbezahlt - um die Verstorbenen kümmern: sie waschen die toten Körper ein letztes Mal, begleiten sie beim rituellen Segen, heben das Grab aus und lassen den Sarg hinein. Und weil die Aids-Seuche so viele Leute dahinrafft, hat Charles fast jeden Tag zu tun. Vielleicht, sagt er, könne seine Anti-Aids-Theatergruppe Dreamland Artists dazu beitragen, dass die Leute länger leben - und weniger von ihnen sterben. "Das ist doch Wahnsinn, was in diesem Land passiert."

Die Hexerei der Tante

Eine halbe Stunde später: Ein Innenhof der Primary School von Blantyre wird zur Spielstätte für die Dreamland Artists. Knapp ein Fünftel der Schüler sind Waisen - die Normalität in den Ländern südlich der Sahara, die von der Aids-Epidemie weltweit am meisten betroffen sind. In Malawi sank seit Mitte der neunziger Jahre die Lebenserwartung von 46 auf nur noch 39 Jahre.

Es ist Nachmittag, ein kühler Wind weht über das Gelände, der junge Totengräber Charles Lizigeni spielt das Lied vom Leben und gibt einen alten Vater, der über seinen Sohn erzürnt ist: Immer bringe der andere Frauen mit nach Hause. Erst diese hübsche Schwarze, dann die viel zu junge Inderin, und jetzt auch noch eine Weiße. Es kommt, wie es kommen muss: Der Sohn bekommt Durchfall, Husten, immer neue Krankheiten. Dann die Zeit im Bett, der Besuch beim Arzt, der Tod, die Beerdigung. Aids? Aber nein, sagt die Mutter. Seine Tante habe ihn verhext. Glaubt sie das wirklich?, fragt Charles, der Vater - Stille im Auditorium.

"Wir erhoffen uns sehr viel von solchen Aufführungen", meint Charlotte Gardiner, Chefin der UN-Themengruppe HIV/Aids in Malawi. "Sie sind unterhaltsam, ziehen die Leute an und vermitteln zugleich wichtige Botschaften." So wie Gardiner denkt eine Mehrheit der Entwicklungshelfer. Pressekampagnen oder Anzeigentafeln? Sie nützen nicht viel, wenn die Mehrheit nicht lesen kann. Unterrichtsstunden in den Dörfern? Oder im Radio? Geringe Erfolgsaussichten.

So sind in Malawi mit seinen zehn Millionen Einwohnern mittlerweile mehr als hundert Theatergruppen entstanden, die ihre Stücke selbst schreiben oder einfach improvisieren, was sich aus dem Leben greifen lässt. Der große Vorzug dieses Laien- und Volkstheaters ist die Unbefangenheit. Auf der Bühne können die Schauspieler offen sein und von Sex, Aids oder gar von Masturbation sprechen. Im wirklichen Leben geschieht das bloß - geredet wird nicht darüber. "Nicht einmal zwischen Mann und Frau", klagt Gardiner.

Nach Umfragen des Nationalen Statistikamtes wissen 99 Prozent der Leute über HIV/Aids Bescheid - sie kennen die Übertragungsarten und wissen, dass Kondome vor dem Virus schützen. Doch von solchen Kenntnissen hin zu einem veränderten Verhalten ist es ein weiter Weg - zu stark sind die traditionellen Geschlechterrollen und die Gewohnheiten der Polygamie im Leben verankert.

Die Frau des Bruders

Im Norden Malawis sind die Dörfer lediglich durch Sandstraßen miteinander verbunden. Fast nirgends gibt es Strom, in dem kleinen Dorf Fundo kann sich nur die Schule glücklich schätzen, damit versorgt zu werden. Vor deren Einfahrt steht ein großes Schild: "Education is the key to success!" - also gibt es hier ein kleines, spontan organisiertes Theaterfestival mit Schauspielern aus der Umgebung.

Die wenigen Stühle und Tische vor der improvisierten Bühne sind reserviert für die Chiefs, die traditionellen Häuptlinge, die in der Dorfgemeinschaft noch immer das letzte Wort haben. Die meisten Zuschauer, 200 etwa, sitzen auf dem Boden im Halbkreis; einige Männer aus Fundo stehen noch abseits. Und der Schuldirektor ist stolz darauf, dass seine Anstalt an diesem Tag solcherart Theater eine Heimstatt bieten kann.

"Wir erklären den Schülern schon früh, wie sie Aids verhindern können, zum Beispiel durch Kondome", erwähnt er.

"Wo können sie hier Kondome bekommen?"

Der Direktor: "Ich bin sicher, da gibt es Möglichkeiten." - "Wo genau gibt es die?"

"Wissen Sie, man kann Kondome nicht einfach öffentlich kaufen. Das ist doch wie eine Ankündigung, dass man jetzt Sex haben wird."

"Trotzdem, wo gibt es sie?"

"Vielleicht in der Hauptstadt."

Das bedeutet allerdings eine Autofahrt von mehr als einer Stunde. Nur besitzt niemand im Dorf einen Jeep, um sich auf den Weg zu machen.

Wenigstens gibt es diese drei Stunden Theater für Fundo. Und immer wieder hört man nur dieses eine englische Wort: HIV/Aids. "Eytsch-Ai-Wi-Eydz", ganz schnell ausgesprochen. Horace - er ist schon über 30 und damit einer der ältesten unter den etwa 50 Schauspielern seines Ensembles - spielt mit seinem zerlumpten weißen Kittel einen Arzt oder besser: die Karikatur eines Arztes. Sein erster Satz auf englisch lautet: "No drugs available!", keine Medikamente vorhanden. Lachen. Dann kommt der HIV-Test. Nach der Vorstellung erzählt Horace, er sei selbst noch nie bei einem solchen Test gewesen. Nach einer Statistik der Nationalen Aids-Kommission Malawis trifft das auf 98 Prozent seiner Mitbürger sein. "Mein Gott", stöhnt Horace, "ich bin Farmer, muss den ganzen Tag arbeiten und bin froh, wenn das Essen das ganze Jahr über reicht."

Zumal das nächste Testzentrum einen halben Tagesmarsch entfernt liegt. Immerhin das soll sich ändern: Dank einer Geldspritze des Globalen Aids-Fonds (s. Artikel von Bettina Stang in dieser Ausgabe) will Malawi bis 2007 jeden Distrikt mit einem Beratungszentrum ausstatten. Mindestens zehn Prozent der Bevölkerung sollen dann dessen Dienste in Anspruch nehmen.

In Horace´ Theaterstück stirbt der Patient schon bald nach der Visite. Und während die Ehefrau noch trauert, kommt schon der Bruder des Toten, um beim Chief die Witwe einzufordern. In der malawischen Kultur hat er das Recht, die Frau eines Angehörigen zu erben. Früher war das die beste Lebensversicherung für die Hinterbliebenen, heute ist es vor allem ein Risikofaktor in Sachen HIV.

Als Epilog singt ein Chor aus Leibeskräften und mit voller Lebensfreude. Die Frauen singen davon, was es heißt, ehrlich zu sein, denn offiziell sterben die Menschen hier nicht an Aids. Es heißt stets: Der Vater starb nach langer Krankheit, die Schwester an Malaria - keiner an Aids. Das Lied endet mit einem Ruf an die Chiefs: "Sagt endlich die Wahrheit!"


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