Klein-Köln ist nicht Köln: Anders als in den Karnevalshochburgen am Rhein muss hier niemand die Flucht ergreifen oder rechtzeitig einen Kurzurlaub buchen, der dem feucht-fröhlichen närrischen Treiben eher mit Sorge als mit Vorfreude entgegenblickt. Das Münsterland feiert Karneval schaumgebremst und nur zu genau festgelegten Zeiten an bestimmten Orten. Wenn das Westfalenland in der fünften Jahreszeit "außer Rand und Band" ist, wie es in einem bekannten Karnevalslied heißt, dann taumelt es in keinen alles umfassenden Ausnahmezustand. Wer auf Vereinsfeste und Büttabende keine Lust hat, der bleibt zu Hause und muss sich auch nicht rechtfertigen. Und wer feiern will, der fährt am Rosenmontag nach Stadtlohn, Billerbeck oder Bocholt. Nicht dass der Karneval im Münsterland keine Tradition hätte, von wenigen in einem karnevalsresistenten Umfeld künstlich am Leben erhalten würde wie in Berlin. Er wird hier nur anders gefeiert, etwas behäbiger.
Köln freilich ist das Vorbild - die Stadt, in der die Jecken so unersättlich sind, dass sie frech den Christopher Street Day als "Sommerkarneval" adoptiert haben, um die lange Durststrecke zwischen den Sessionen besser durchzustehen. Der Karneval im münsterländischen Wüllen kann sogar als direkter Ableger des kölschen Karnevals gelten, nicht umsonst heißt der Wüllener Karnevalsverein "Klein-Köln". Ein Schreinergeselle hat den Brauch Mitte des 19. Jahrhunderts aus Köln in sein Heimatdorf gebracht, wo er um eine sehr münsterländische Sitte bereichert wurde: Ein Pater brannte für die Jecken ein Fass Doppelkorn, und Korn fließt in Wüllen auch heute noch am Karnevalssonntag aus einer Pumpe am Marktplatz. Stadtlohn trumpft in einem Karnevalslied sogar richtig auf und lässt die Rheinländer wissen: "Wi makt noch völl duller as grot Kölln an´n Rhien!" Aber das ist wohl doch Großmäuligkeit. Und ein Pfeifen im Walde ist es, wenn in Vreden die Losung ausgegeben wird: "Die Vredener sind jeck wie nie - Karneval in Germany". Der "bacillus carnevalis", den eine Lokalzeitung herbeizuschreiben versucht, wird den alljährlichen Sportlerball in der Schützenhalle Gaxel kaum verlassen.
In Schöppingen, auf halber Strecke zwischen Münster und der niederländischen Grenze, feiert man in diesem Jahr überhaupt erst 50 Jahre Karneval. 1844 hatte es ein Pfarrer doch tatsächlich geschafft, den Schöppinger Umtrieben so gründlich Einhalt zu gebieten, dass sich die Jecken von diesem Schlag bis 1938 nicht erholten. Damals wurde ein Revival versucht und der abstruse Karnevalsruf "Hei-a-kra-Bau" (Heimat am krausen Baum) kreiert; der Krieg brachte das närrische Treiben gleich wieder zum Erliegen. Zwar wurde 1957 der Neue Schöppinger Kolping-Karnevalsverein gegründet, trat zum ersten Mal der Elferrat zusammen, aber richtigen Schwung bekam der Schöppinger Karneval erst mit niederländischer Unterstützung. Die in Schöppingen stationierten niederländischen NATO-Soldaten unterhielten ihre eigene Karnevalsgesellschaft "De Flarakkers" und regten Anfang der siebziger Jahre einen Karnevalsumzug an - bis dahin hatte es nur Festabende gegeben. "Die Holländer legen uns ein Kind in die Wiege, und wir müssen es nähren und großziehen", soll damals ein skeptischer Einwand gelautet haben. Die Soldaten jedenfalls sind 1987 abgezogen, den Schöppinger Umzug am Karnevalssonntag gibt es heute noch. Letztes Jahr soll er 30.000 Zuschauer angelockt haben.
Der Wirt in meiner Stammkneipe, in allen Schöppinger und münsterländischen Angelegenheiten eine verlässliche Auskunftsquelle, selbst kein großer Karnevalist und auch als Lokalpatriot nicht unverbesserlich, spricht doch mit Stolz von diesem Umzug. Jedes Jahr könne man sich an neuen Wagen und neuen Ideen erfreuen - im Gegensatz zu manchen Gemeinden im Umland, wo man bei wiederholten Besuchen feststellen müsse, dass dort jedes Jahr dasselbe aufgetischt werde. Die Schöppinger Kreativität hingegen werde sogar exportiert, und die von Traktoren gezogenen Wagen seien dann oft am Rosenmontag noch einmal in anderen Orten zu sehen. Den Westfälischen Nachrichten nimmt er es übel, dass sie im Lokalteil jahrelang den flauen Gronauer Karneval hochgeschrieben und ihren Lesern gleichzeitig verschwiegen hätten, was in Schöppingen los sei. Als ortsbekannte Persönlichkeit gerät der Wirt, der in seiner Kneipe am Wochenende viel Jugend zu Gast hat, schon mal selbst ins Visier der Karnevalisten, und eine ganze Gruppe tritt mit seinem Markenzeichen, einer ärmellosen Lederweste auf - eine freundliche Hommage.
Schöppingen, Anfang Februar: Im Festsaal des Hotels Alte Post rüstet man sich zum Großen Büttabend. Wer es geruhsamer bevorzugt, kann auch die Wiederholung, den Büttnachmittag am Sonntag besuchen. Das Publikum am Freitagabend aber ist fest entschlossen, sich lautstark zu amüsieren und benötigt dazu viel Alkohol. Alle Altersgruppen sind vertreten, so gut wie niemand ist kostümiert. Das Bier wird kastenweise verkauft, der Korn flaschenweise. In einem Schöppinger Karnevalsschlager aus den sechziger Jahren heißt es nicht von ungefähr: "An der Theke ist es schön, dort könnt ich immer stehn." Punkt 20 Uhr 11 betritt der Elferrat zu Klängen der Feuerwehrkapelle den Saal. Jetzt erst erfährt nach einem Schöppinger Brauch das Volk, wer diesmal zum Prinzen gewählt wurde: Es ist ein alter Bekannter - Prinz Ludger II. und die Ehefrau an seiner Seite, seine Lieblichkeit Mechthild II., hatten bereits Anfang der neunziger Jahre einmal das Prinzenpaar gegeben. Mein Tischnachbar, den ich vom Sehen aus der Stammkneipe kenne, warnt mich vor. In den Büttenreden werde jeder aufs Korn genommen, bestimmt auch das Künstlerdorf, in dem ich derzeit als Stipendiat lebe.
Der Elferrat nimmt in der Kulisse des stilisierten Alten Rathauses Platz, ganz vorne im Publikum sitzen die Honoratioren: der Bürgermeister, der Pfarrer und der Leiter des Künstlerdorfes. Aber die müssen sich den ganzen Abend nicht eine spöttische oder gar böse, an sie adressierte Bemerkung anhören. Die Büttenredner umschiffen alles Lokale, ja überhaupt alles Politische konsequent und reißen nur unverfängliche Witze, wobei sich immerhin ein dominantes Thema herauskristallisiert: die Ehe. Da wird dann kalauert, dass Lebensgefährtin von Lebensgefahr komme, die Frage gestellt, was eine Glühwürmchenehe sei. Die Glut raus, der Wurm drin. Oder: Wer die Königin der Herzen heirate, solle sich später über die Thronreden nicht wundern. Dazu allerhand Zotiges, wobei sich das Saufen als weiteres Hauptthema herausstellt: Alkohol ist ein langsames Gift. Aber ich habe Zeit. Oder man phantasiert Liliputanerinnen als Stripteasetänzerinnen für die Besoffenen, die unter dem Tisch liegen. Wie geht ein beliebter Schöppinger Karnevalsschlager? "Schöppinger Bier, das muss man wissen, Schöppinger Schnaps und Bier schmeckt gut."
Sollte etwa der Büttenredner, der die Frage stellt, warum in modernen Kunstausstellungen die Bilder und nicht die Künstler aufgehängt würden, das Künstlerdorf im Blick haben? Wohl kaum, bleiben doch alle Schöppinger Themen, von denen ich angenommen hatte, dass sie sich die Büttenredner vornehmen würden, ausgespart: die neue Ortsumgehungsstraße, die Insolvenz eines traditionsreichen Bäckereibetriebs, der Schlachthof, der sich billige Arbeitskräfte aus Osteuropa holt, der Sturm, der das Kirchendach beschädigt hat, das Asylbewerberheim in der ehemaligen NATO-Kaserne, und ja, warum nicht auch das Künstlerdorf?
Büttenredner, Bauchredner, Minigarde, Blaue Garde, Rote Garde, Männerballett: Bei jedem der vielen Akteure bedanken sich die Moderatoren persönlich und sie werden in langwierigen Ritualen mit Büttenmärschen von der Bühne verabschiedet. Neben den "Hei-a-kra-Bau"-Rufen ist auch immer wieder "Kölle alaaf" zu hören, wird Viva Colonia gesungen. Richtig Stimmung kommt zum ersten Mal auf, als die niederländische "Juxkapelle" dem Saal einheizt. Von den Stühlen reißt die Jungen im Publikum aber dann ein unsägliches Schlagerduo aus Lünen, das zu stampfenden Ballermann-Rhythmen alte Schlager-Kamellen wie den Griechischen Wein aufwärmt. Dass Michael Yvonne am Tag ihrer Hochzeit für die Schöppinger auftreten, war von den Lokalblättern als die große Sensation des Abends angekündigt worden.
Bei der Nachbereitung des Büttabends in der Stammkneipe resümiert mein Tischnachbar, dem Büttabend habe in diesem Jahr der rechte Zug gefehlt, und er beklagt sich über die krakeelenden Holländer, derentwegen ihm ab 10 Uhr einige Pointen entgangen sind. Er erinnert sich an einen Witz, der von engen Jeans und Schamlippen handelte, aber nicht mehr genau. Er, der Wirt und ich sind uns aber einig, dass es doch ein Unding sei, wenn der Bürgermeister sich an dem ganzen, vierstündigen Büttabend kein einziges kritisches Wort anhören müsse. Früher sei es schon mal vorgekommen, dass jemand Türen schlagend den Saal verlassen habe, meint der Wirt und erinnert daran, dass der Karneval sich ursprünglich gegen die Obrigkeit gerichtet habe. Wenn es noch eines Beweises für die vollendete Zahn- und Harmlosigkeit des Karnevals bedurft hätte, dann wäre er mit dem Schöppinger Büttabend erbracht, dessen aufrührerischste Geste es war, dass ein als Braut verkleidetes Mitglied des Männerballetts am Schluss um die Hand des Pfarrers angehalten hatte.
In der Ausstellung Konfetti Asche. Fastnacht - Fastenzeit - Passionszeit, die derzeit im Hamaland-Museum in Vreden gezeigt wird, nimmt der Passionsaspekt den weitaus größeren Teil ein. Das ältere Ehepaar, das sich an dem regnerischen Nachmittag die Ausstellung anschaut, interessiert sich ausschließlich für die Kruzifixe und Leidensbilder und würdigt die Vitrinen mit den Karnevalskostümen keines Blickes. Karneval sei nicht ihre Welt, meint die ältere Dame zu der Museumsfrau, die ihrerseits versichert, sich aus Karneval nichts zu machen. Aber in Vreden sei das auch kein Problem, da sei sowieso nichts los. In Schöppingen gibt es immerhin den Umzug am Karnevalssonntag, und ich stelle mir vor, dass es beinahe etwas Subversives haben könnte, wenn der höllische LKW-Durchzugsverkehr wenigstens ein paar Stunden lang von den Narren gestoppt wird.
Florian Neuner, geboren 1972, lebt derzeit als Stipendiat im Künstlerdorf Schöppingen/Westfalen. Im April erscheint im Ritter Verlag sein neues Buch Zitat Ende. Prosa.
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