Immer wieder kam es vor, dass man jahrelang nichts hörte von Gert Jonke, dass allenfalls Bücher erschienen, die sich bei näherem Hinsehen als Recycling alter Texte entpuppten. Gerade jetzt freilich, da und die Nachricht seines Todes aus Wien erreicht hat, kann man keineswegs behaupten, dass dieser Autor der literarischen Welt ohnehin schon länger abhanden gekommen wäre. In Österreich war er zuletzt als gefeierter Burgtheater-Autor präsenter denn je, gerade sind alle seine Stücke in einem Band erschienen.
In Freier Fall, Jonkes letztem, im Mai 2008 uraufgeführten Stück, geht es um einen Selbstmörder, der immer wieder von neuem geboren wird, um seinem Leben abermals ein Ende zu bereiten - ein absurder Teufelskreis. Aber nicht nur der schwarze Humor hat zum Erfolg dieses Stückes in Wien beigetragen. Jonke konnte furiose Monologe und Tiraden schreiben, wie sie das Publikum schon bei Thomas Bernhard geliebt hatte und wie es heute vielleicht nur noch Werner Kofler vermag, ebenfalls ein Autor aus Kärnten und mit Jonke seit Jugendtagen bekannt. Diese Sprache, die nicht zur Dekonstruktion einlädt, sondern als Partitur verstanden und zum Klingen gebracht werden will, hat heute nördlich von Wien wenig Konjunktur. Das war einmal anders.
Zu Beginn seiner literarischen Laufbahn und noch ehe er in seiner Heimat etwas galt, feierte der 1946 in Klagenfurt geborene Jonke in der Bundesrepublik Erfolge. Noch keine 25, war er schon Suhrkamp-Autor und wurde in einem Atemzug mit Peter Handke genannt, der damals noch nicht rückwärts gewandte Utopien raunte. Es war die Zeit, als "die Grazer auszogen, um die Literatur zu erobern", wie ein Buchtitel später resümierte. "Grazer", das waren die Autoren im Umfeld der Zeitschrift manuskripte, die einen frischen Wind in die deutschsprachige Literatur brachten, indem sie sich unorthodox experimenteller Techniken bedienten und diese auf traditionelle Gattungen wie den Roman anwandten, neben Jonke probten das Barbara Frischmuth, Gerhard Roth und Helmut Eisendle. Der Lyriker Reinhard Priessnitz kritisierte damals, diese Schreibweisen würden von den "Grazern" gerade dort eingesetzt, wogegen sie entwickelt worden seien, die Feuilletons goutierten den "Kompromiss".
Gert Jonkes erste Bücher: Geometrischer Heimatroman (1969), Glashausbesichtigung (1970) und Die Vermehrung der Leuchttürme (1971) lesen sich streckenweise wie Fingerübungen in spielerischer Anverwandlung experimenteller Techniken. Ein wohl vom Nouveau Roman inspirierter Beschreibungsfuror mischt sich mit Parodien von Behördensprache und langen Aufzählungen, die mehr klanglich als inhaltlich motiviert scheinen. Alles ist grundiert von einer immensen Lust am Sprachspiel, jede Abschweifung wird zugelassen. Der hohe Abstraktionsgrad dieser Prosa ermöglicht zudem eine politische Lesart. So glaubte der Verleger und Lyriker Michael Krüger, in der Glashausbesichtigung eines der "radikalsten Bücher über Österreich" zu sehen. In diesem Buch finden wir auch so etwas wie eine Poetik in nuce: "Ich glaube nicht an normale Erzählungen. Ich kann nur an Erzählungen, die durch andere Erzählungen unterbrochen werden, glauben. Ich glaube, jeder einzelne Satz der Erzählung muß durch einen darauffolgenden Satz einer zweiten und dritten Erzählung unterbrochen werden."
In einem Nachwort zur Vermehrung der Leuchttürme teilt der Autor mit, dass ein "beträchtlicher Teil des Manuskripts" von der Dobermannhündin Syra de Calovriere zerbissen worden und deshalb nicht mehr rekonstruierbar sei - "was der Autor aber nicht im geringsten als eine Minderung der Qualität des Textes empfindet". Überhaupt scheint das abgeschlossene Werk für Jonke immer höchst fraglich gewesen zu sein. Die vielen Neuauflagen sind keineswegs (immer) bloß aus der Verlegenheit des Verlags geboren, der seinen Autor im Gespräch halten will - nach dem Beginn bei Suhrkamp ging Jonke zu Residenz in Salzburg, danach zu Jung und Jung, dem neuen Verlag des Residenz-Verlegers Jochen Jung. In einer Neuauflage der Vermehrung der Leuchttürme 1980 scheut Jonke sich nicht, zu bekennen, dass dieses Buch in einer "privat schwierigen Krisenzeit" entstanden und deshalb mißglückt sei. Manche Stoffe lassen sich in unterschiedlichen Bearbeitungen über Jahre hinweg verfolgen - etwa das Projekt Das System von Wien, in dem phantastische Geschichten sich entlang von Straßenbahnlinien entspinnen und das über einige Abschnitte nie hinausgelangt ist oder der schließlich in dem Theaterstück Opus 111 mündende Stoff von den 111 Klavieren, die auf dem Dachboden des Konservatoriums versteckt sind und das Gebäude zum Einsturz zu bringen drohen.
Jonke, der dem Germanist Arno Russegger zufolge "wesentliche Teile seines Lebens hauptsächlich damit zugebracht (hat), von Alkohol und Aufputschmitteln wegzukommen" veröffentlichte schließlich um 1980 zwei Prosabücher, mit denen er sich weit von seinen spielerisch-experimentellen Anfängen entfernt hatte, ohne sich freilich wie andere "Grazer" an einen Erzähl-Mainstream anzubiedern. Dass er damals - als erster - den Bachmann-Preis erhielt, kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. In Der ferne Klang und Erwachen zum großen Schlafkrieg wird außerdem das Thema Musik zentral - die Suche nach einer neuen, einer andersartigen, noch nie gehörten, möglicherweise sogar unhörbaren Musik. Diese Prosa ist voller synästhetischer Zündungen und gewagter surrealer Bilder. Jonke sprach in einem Interview einmal davon, mit der Sprache musizieren zu wollen und strebte nach nichts Geringerem als einer neuen Sprache, die im Schlafkrieg so umkreist wird: "eine Sprache, in deren Gedankenreiseverkehrsnetz unsere Verständnisexpeditionen weiter gelangten als in eine vorausgebreitet fernere Erinnerungsprovinz, in der uns bald das bleibend unbegreiflich persönliche Fremde vertrauter würde, indem wir dieser beharrlich uns überholenden Wortsegel einmal habhaft würden".
Auf diese Prosa folgen wieder Jahre des Schweigens, ehe Jonke in den neunziger Jahren endgültig als Dramatiker reüssiert. Das Thema Musik bleibt zentral. Nicht nur lässt er in seinen Stücken Beethoven auftreten, er publiziert auch eine Reihe von Texten zur Musik, über Georg Friedrich Händel und Alban Berg, dreht einen Fernsehfilm über den Tod Anton Weberns. Jonke war ein Musikschriftsteller, der nicht nur kundig über Musik schreiben konnte, sondern auch mit Sprache musizieren konnte. Bei ihm war Musik nie bloß Kolorit, er ließ Musik und Sprache einander gegenseitig durchdringen. Das macht ihm auch jetzt noch keiner nach.
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