Der größte Teil der zeitgenössischen Vokalmusik entsteht noch immer nach einem ziemlich ausgesprochen konventionellen Muster: Ein Komponist greift einen zuvor bereits existierenden Text auf, um ihn dann musikalisch zu illustrieren und interpretieren. Die meisten halten sich dabei bevorzugt an tote Dichter, Kollaborationen mit lebenden Autoren kommen meist nur zustande, wenn sie durch Institutionen eigens angeregt werden, wie etwa vor zwei Jahren beim Poesiefestival in Berlin. Sonst hält man sich lieber an Bewährtes, wobei Friedrich Hölderlin und Paul Celan auf der Hitliste seit Jahren ganz oben stehen, wenn nicht gleich zu antiken Stoffen gegriffen wird.
Es scheint, als wollten sich die Komponisten rückversichern mit einem unangreifbaren, die Musik gleichsam nobilitierenden Text - Hans Zender mit Hölderlin, Rolf Riehm mit Kafka, Aribert Reimann mit Joyce, Dieter Schnebel mit Brecht, Goethe und vielen anderen, Mark André gleich mit Bibeltexten. Und Peter Ruzicka mutet uns gar einen leibhaftigen Celan auf der Opernbühne zu, Brian Ferneyhough Walter Benjamin in den letzten Stunden seines Lebens. Häufig werden die Texte dann mehr zelebriert als vertont, etwa in Zenders Zyklus Hölderlin lesen für Sprechstimme und Streichquartett oder in Ruzickas Quartett ... sich verlierend ..., wo niemand geringerer als Dietrich Fischer-Dieskau als Sprecher Texten von Hofmannsthal, Adorno, Wittgenstein und natürlich Celan Aura verleihen muss. Oder bei Rolf Riehm, der in seinem Ensemblestück aprikosenbäume gibt es, aprikosenbäume gibt es die Stimme der dänischen Dichterin Inger Christensen von Band einspielen lässt. Auch Isabel Mundry zelebriert in gesichtet, gesichelt, in diesem April in Witten uraufgeführt, einen Text von Thomas Kling ( 2005) und lässt das Gedicht rezitieren, zu dem im Hintergrund ein Chor zischt und raunt und ein Solotrompeter Arabasken spinnt. So weit, so konventionell.
Einen interessanten Impuls zum Thema lieferten die Wittener Tage für neue Kammermusik, bei denen man freilich nie so genau weiß, ob dort Trends eher gewittert oder gesetzt werden. Dort stellte man "die Stimme" in den Mittelpunkt und bot Gelegenheit, über zeitgenössische Text-, Stimm-, und Sprachbehandlung nachzudenken. Im Programmbuch war davon die Rede, dass wir seit den fünfziger Jahren die "zweite große Blütezeit eines produktiven Zusammenstoßes von Musik und Dichtung bzw. Vortragskunst" erleben würden. Einer der Gewährsleute war Georges Aperghis, von dem ein Musiktheaterstück nach Robert Walser und Paul Klee uraufgeführt wurde und der wie kaum einer mit den Ambivalenzen im Grenzbereich zwischen Musik und Sprache spielt. Er versucht die Stimmen der Instrumente der gesprochenen Sprache anzunähern und treibt menschliche Stimmen mit musikalischen Mitteln in Bereiche semantischer Unbestimmtheit. "Wenn man zuviel versteht, hört man nicht mehr auf die Musik", weiß der theatererprobte griechisch-französische Komponist, der dem Zuhörer immer gerade so viele verständliche Sinnbrocken hinwirft, dass dieser aufmerksam Sinn konstruierend bei der Stange bleibt. Theodor W. Adorno hat in einem späten Fragment über Musik und Sprache festgestellt: "Musik ist sprachähnlich. Ausdrücke wie musikalisches Idiom, musikalischer Tonfall, sind keine Metaphern. Aber Musik ist nicht Sprache." An diesem Widerspruch laboriert die Musik von der barocken Affektenlehre bis hin zu gegenwärtigen Experimenten.
Interessant wird es immer dann, wenn Komponisten sich daran wagen, das Verhältnis von Musik und Sprache neu und experimentell zu denken anstatt sich an kanonisierten Kulturgütern emporzuranken. Es sind nicht viele, aber es gibt sie. Georges Aperghis erzählt etwa von der Kindheitserfahrung, die Erwachsenen sprechen gehört, sie aber nicht verstanden zu haben, und seiner Reaktion darauf: einer spielerisch-imitatorischen, respektlosen Aneignung der unverständlichen Sprache - ein Impuls, der in seinen Récitations von 1977/78 nachwirkt. Von Gestik und Idiomatik der gesprochenen Sprache ausgehend, verfremdet er sie - sozusagen mit Silben und Gesten komponierend - so weit, dass der Hörer sich auf unvertrautem Gelände zwischen Sinn und Unverständlichkeit, Nachvollziehbarkeit und Rätselhaftigkeit wiederfindet. "Man geht von musikalischen Spielregeln aus, um eine Sprache entstehen zu lassen", sagt Aperghis. Die Kraft beziehen diese Stücke wie auch seine "beredten" Instrumentalwerke daraus, dass sie sich der Spannung zwischen Musik und Sprache stellen, das Musikalische der Sprache wie das Sprachähnliche der Musik auslotend.
Was Lautpoeten in den fünfziger Jahren provokant-spontanistisch angestoßen haben, entwickeln Komponisten wie Georges Aperghis oder Carola Bauckholt, Mischa Käser oder Annette Schmucki erfindungsreich weiter und benötigen dazu keinen Celan. Das Experiment einer konzertierten musikalisch-literarischen Parallelaktion verfolgt hingegen der österreichische Komponist Clemens Gadenstätter, der seit Jahren mit der Autorin Lisa Spalt zusammenarbeitet: Text und Musik werden gleichzeitig und aufeinander bezogen entwickelt - für beide eine Herausforderung ganz spezieller Art. Spalt muß silbengenau auf die Präzision musikalischer Abläufe reagieren, während Gadenstätter bei dieser Herangehensweise direkt auf die semantischen Implikationen des musikalischen Materials gestoßen wird. Für die Donaueschinger Musiktage 2005 entstand so ein ausladendes Stück für Chor und Orchester mit dem Titel powered by emphasis, das sowohl auf der Text-, als auch auf der musikalischen Ebene collagierend mit Klischees und Versatzstücken arbeitet. Worthülsen aus der Praxis von Ideologie und Produktwerbung, aber auch Heimattümelndes werden mit so abgegriffenen wie aufgeblasenem musikalischem Material ins Absurde übersteigert - und provozierten das Fachpublikum, das sich ja nicht eben leicht aus der Fassung bringen lässt.
In Adornos Fragment hieß es vor 40 Jahren emphatisch: "Sprachähnlich zeigt Musik am Ende sich nochmals darin, daß sie als scheiternde gleich der meinenden Sprache auf die Irrfahrt der unendlichen Vermittlung geschickt wird, um das Unmögliche heimzubringen." Auch wenn man weder der neuen Musik noch der neuen Poesie gleich das Unmögliche zutrauen mag, spricht doch vieles dafür, dass die Problematik der Sprachbehandlung nach wie vor eines der spannendsten Felder darstellt.
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