In den 80er Jahren hatte die bundesdeutsche Anti-AKW-Bewegung ihren Zenit eigentlich überschritten. Doch zu Pfingsten 1986 kam es – drei Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl – bei einer Demonstration gegen den geplanten Bau einer atomaren Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) im bayrischen Wackersdorf zu einer der erbittertsten Auseinandersetzungen in der Geschichte dieser Bewegung. Während der „Pfingstschlacht“, wie das Geschehen in der Presse genannt wurde, attackierten sich Polizisten und Autonome rund um das mit einem Hochsicherheitszaun abgesperrte Baugelände. Riesige Strommasten wurden umgesägt, mit einem geklauten Bagger fuhren Vermummte nachts gegen den mit NATO-Stacheldraht gesicherten Bauzaun. Andere Aktivisten stoppten mit Baumbarrikaden einen Regionalzug und koppelten die Lokomotive ab. Die zu Beginn dieses Pfingstwochenendes eingesetzten, gerade einmal tausend Polizeibeamten sahen sich, wie der Spiegel glaubte, der „Mehrheit aller derzeit reisenden Intensivtäter“ aus der gesamten Bundesrepublik gegenüber. Diese warfen Steine und Molotowcocktails, verschossen Stahlkugeln mit Zwillen und sägten – gegen die eingesetzten Wasserwerfer mit großen Plastikplanen geschützt – mehrere metergroße Löcher in den Bauzaun.
Der Widerstand gegen die geplante Anlage in Wackersdorf hatte einst friedlich begonnen, nur ließ sich schon bald die in den 80er Jahren von Politikern oft beklagte Gewaltspirale nicht mehr eindämmen. Zunächst hatten Demonstranten mit einem Hüttendorf die Rodung von hunderten Hektar Wald im Taxöldener Forst verhindern wollen. Im Dezember 1985 wurde das Camp „Freie Oberpfalz“ dann jedoch von der Polizei brachial geräumt. Über 3.000 Beamte prügelten die aus dem bürgerlichen und alternativen Spektrum stammenden AKW-Gegner durchs Gelände. Mit fast 900 Festnahmen – ein wahrer Verhaftungsrekord – machte die bayrische Staatsregierung klar, dass sie mit Atomkraftgegnern keinesfalls zimperlich umgehen wollte. Es galt eine repressive Gangart, wie sie in den Jahren zuvor schon in Gorleben und Brokdorf oder bei den ersten Anti-WAA-Demonstrationen in München üblich war. Als es in Wackersdorf zur nächsten Räumung eines Hüttendorfes kam, war gar die Anti-Terror-Einheit GSG 9 zur Beobachtung vor Ort. Die harte Linie des bayrischen Innenministeriums schreckte die Menschen freilich nicht davon ab, sich den Plänen für eine Atomfabrik zu widersetzen, die auch für die Produktion von waffenfähigem Plutonium ausgelegt war.
Ende der 70er Jahre hatte Niedersachsens damaliger Regierungschef Ernst Albrecht (CDU) erklärt, der Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage in Gorleben sei politisch nicht durchsetzbar. In Bayern sah man hingegen keine Probleme. Laut Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) sollte die geplante Wiederaufarbeitungsanlage so sicher wie eine Fabrik für Fahrradspeichen sein. Im Umkreis von Wackersdorf, wo Teile der Bevölkerung wegen abbaufähiger Braunkohle schon mehrfach umgesiedelt worden waren, erwartete die bayrische Staatsregierung keinen nennenswerten Widerstand. Dann aber formierte sich im Oktober 1985 in München ein Protestzug von 50.000 Menschen gegen das Projekt. Ein paar Monate später, zu Ostern 1986, zog eine der größten Anti-AKW-Demonstrationen der 80er Jahre mit gut 100.000 Menschen weitgehend friedlich zum Bauzaun in Wackersdorf. Aus welchem Grund die seinerzeit eingesetzten 5.000 Polizeibeamten hart bis brutal gegen die Protestierenden vorgingen, bleibt bis heute ungeklärt. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde sogar das umstrittene und von den Genfer Konventionen geächtete CS-Gas eingesetzt, das unter anderem Lungenkrämpfe auslöst und zu Hautausschlägen führt. Zum Teil wurde das Gas – mit Wasser vermischt – von Wasserwerfern in die Bäume geschossen, aus deren Kronen dann eine ätzende Flüssigkeit auf die Menschen tropfte. Ein Demonstrant starb an einem Asthmaanfall.
Vier Wochen später kam es zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, so dass der Protest gegen Wackersdorf zusätzlich angefacht wurde. Als zum Pfingstwochenende bis zu 40.000 Menschen vor den mittlerweile festungsartig ausgebauten Bauzaun zogen, sahen sie sich einer völlig überforderten Polizei gegenüber. Die bayrischen Behörden hatten die Situation völlig falsch eingeschätzt, so dass sich das Innenministerium in München gezwungen sah, ein Hilfeersuchen an die Innenbehörden anderer Bundesländer zu richten. Die sandten mobile Einheiten und schweres Gerät. Am Pfingstmontag waren beim bis dahin größten Polizeieinsatz in der bundesdeutschen Geschichte allein 41 Wasserwerfer im Einsatz. Um die permanent befüllen zu können, wurde der Bevölkerung kurzerhand das Wasser abgedreht.
Abgefeuert aus niedrig fliegenden Hubschraubern flogen CS-Gas-Kartuschen auf die Demonstranten, die sich mit Molotowcocktails wehrten, um Räumpanzer aufzuhalten. Polizeibeamte verschanzten sich hinter ihren Schilden in Schildkrötenformation und standen mitunter im Dauerfeuer vermummter Steinewerfer, während organisierte autonome Trupps den Bauzaun bearbeiteten und metergroße Löcher hineinsägten. Es gab apokalyptisch anmutende Szenen, immer wieder wurde skandiert: „Aufruhr, Widerstand, es gibt kein ruhiges Wackerland!“ Die lächelnde Sonne der Anti-AKW-Bewegung, mit einem Tuch vors Gesicht gebunden, wurde zum Logo des Aufstandes von Wackersdorf.
Allerdings ging Militanz nicht nur von autonomen Gruppen aus. Vor dem Bauzaun agierten ebenso zahlreiche derben bayrischen Dialekt sprechende Einheimische, die Steine auf Beamte warfen und Festnahmen verhinderten. Frauen schleppten Schotter aus dem Gleisbett der nahe gelegenen Bahnlinie an den Bauzaun und brüllten „Stoana, do geht’s her, Stoana!“, um die Wurfgeschosse an Punks und Autonome zu verteilen. Es tauchten Bauern aus der Umgebung auf, die Aktivisten mit belegten Broten und heißen Getränken versorgten.
Trotz der massiven Gewalt darf im Rückblick nicht übersehen werden, dass eine Mehrheit der Anti-AKW-Front von Wackersdorf gewaltfrei agierte. Andererseits war Militanz nur schwer von Protest zu trennen. Sogar der ortsansässige SPD-Landrat Hans Schuier, Aushängeschild der bürgerlichen Anti-WAA-Fraktion, erklärte später: „Ohne die Autonomen hätten wir die WAA nicht verhindert.“
Sowohl auf Seiten der Polizei als auch der Demonstranten gab es hunderte Verletzte. Mehr als 100 Beamte quittierten nach der „Pfingstschlacht“ den Dienst, weil sie sich von der Politik verheizt fühlten. In der Folge wurde immer wieder über den Einsatz von Gummigeschossen und sogar von Schusswaffen bei Demonstrationen diskutiert. Der schwarze Block schaffte es im Anschluss an das Wackersdorfer Pfingstwochenende immerhin in die Sendung Aktenzeichen XY ... ungelöst, wo Eduard Zimmermann mit Polizeivideos nach autonomen Randalierern suchte. Der mediale Pranger war erfolgreich. Nachdem ein Mann von Nachbarn erkannt worden war, stellte er sich freiwillig den Behörden.
Wie sehr sich die bayrische Staatsregierung unter Druck gesetzt sah, verdeutlicht eine bizarre Episode eine Woche nach der Pfingstschlacht. Am 22. Mai schaltete sich das Bayrische Fernsehen aus der ARD aus, da in der Satiresendung Scheibenwischer ein atomkraftkritischer Sketch aufgeführt wurde – ein bis heute einzigartiger Vorgang. Zahlreiche Ortsverbände der SPD zeigten die Scheibenwischer-Folge später auf Video. Ob die Protestereignisse von 1986 zum Baustopp der WAA mit beigetragen haben, der im April 1989 überraschend verkündet wurde, ist unklar. Die Aufarbeitung von Kernbrennstäben in La Hague und Sellafield galt als kostengünstiger. Mit dieser Entscheidung wurde aber auch ein Grundstein für die umstrittenen, von zahlreichen Protesten begleiteten Castortransporte gelegt.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.