Zuerst klingt es nach einer Überraschung, dass einer der spannendsten und literarisch anspruchsvollsten Romane zum Thema Datensammlung, Überwachung und Hackerangriffe aus Argentinien kommt. Aber die 1977 in Buenos Aires geborene Pola Oloixarac wird schon seit einigen Jahren als Wunderkind der argentinischen Gegenwartsliteratur gefeiert. Oloixarac, die gelegentlich auch für die New York Times, die BBC und andere internationale Medien arbeitet, wird von Kritikern in einem Atemzug mit Thomas Pynchon und Vladimir Nabokov genannt. Ihr vor acht Jahren erschienenes Debüt Las teorías salvajes („Wilde Theorien“) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
In Argentinien löste der Roman, in dem der Machismo linker Intellektueller im Universitätsmilieu thematisiert wird, eine heftige Debatte aus. Überhaupt hat Pola Oloixarac ein recht angespanntes Verhältnis zur politischen Linken und poltert in Interviews gegen Kommunisten, linke Peronisten und die 68er-Bewegung. Wobei sich Oloixarac aber auch deutlich von den rechten Putschisten der 70er Jahre distanziert. Deutsche Leser können Pola Oloixarac nun durch ihren zweiten Roman Kryptozän kennenlernen – ein literarisch ungemein dichter Text, historischer Wissenschaftsroman und dystopische Science-Fiction zugleich.
Die Dead Kennedys sind super
Auf nicht einmal 200 Seiten entwirft Oloixarac die Geschichten dreier Wissenschaftler auf drei Zeitebenen, die bei der Kartografierung der Wirklichkeit mit außergewöhnlichen Phänomenen konfrontiert werden und an die Grenzen ihrer jeweiligen Ordnungssysteme stoßen. Ende des 19. Jahrhunderts macht der Biologe Niklas bizarre Entdeckungen auf einer geheimnisvollen Insel, die für ihn zu einer regelrechten Obsession werden und sein ganzes Leben verändern.
Der Dead Kennedys hörende Informatiker und Hacker Cassio, der gern ein T-Shirt mit der Aufschrift „Hacker oder Beherrschte“ trägt, programmiert in den 1980er Jahren Viren, wie andere Leute Kunstwerke herstellen, und wird zum Star einer globalen Nerd-Gemeinde. Seine subversiven Programme schickt er in die Welt hinaus, wo sie auf Servern vor sich hinschlummern, um eines Tages aktiviert zu werden. Die Biologin Piera arbeitet Mitte der 2020er Jahre mit einem bereits in die Jahre gekommenen und die Karriereleiter steil nach oben gekletterten Cassio an einem gigantischen Datenbankprojekt. Dabei geht es um ein System biologischer DNA-Proben und digital aufgezeichneter Bewegungsmuster, das mithilfe eines Quantencomputers die mehr oder weniger totale Überwachung ermöglicht.
Als realen Hintergrund nimmt Pola Oloixarac die 1987 in Argentinien gegründete nationale Gendatenbank, die ursprünglich dazu diente, bei der Aufarbeitung der Diktatur die mehr als 500 aus Gefangenenlagern geraubten Säuglinge ihren regimekritischen Eltern zuordnen zu können. In Kryptozän nun werden die Genprints aller Säuglinge in einer riesigen Datenbank gesammelt – im Unterschied zu Datenskandalen in Europa und dem autoritären Patriot Act, der in den USA den Behörden den Zugriff auf sensible persönliche Daten ermöglichen soll (was kürzlich etwa zu den Irritationen zwischen US-Behörden und Apple führte).
Mithilfe eines Kamera- und Geruchssensorennetzes und eines Supercomputers können sogenannte Lebenslinien erzeugt werden. Der Ausbau dieses Systems war eigentlich als Abwehr gegen eine biotechnologische Terrorgefahr gedacht. Abgelegen in den Anden, wo Piera und Cassio arbeiten, befinden sich die Megarechenmaschine und die vielen Millionen genetischer Fingerabdrücke. Aber plötzlich entsteht eine Gegenbewegung im Untergrund, die gegen die konzentrierte Datensammlung vorgehen will.
Die Figuren in Kryptozän diskutieren viel über Sinnfälligkeit und Gefahr der staatlichen Überwachung, wobei die Alternative im Roman die profitorientierte Privatisierung ist. Pola Oloixarac lässt ihre toughe Heldin aus der Zukunft auf ihren Lieblingsautor William Gibson verweisen, der in Neuromancer (1984) für die erfolgreiche Entwicklung neuer Technologien eine anarchische und minimal regulierte Umgebung einfordert – was gern zu Unrecht als Stehsatz neoliberaler Ideologie verstanden wird.
Oloixaracs Held Cassio dagegen ist der Prototyp des subkulturell geprägten neoliberalen Selfmademan, der die 1990er Jahre als „barocke und euphorische Phase des utopischen Liberalismus“ erlebt, in der es einigen wenigen Akteuren möglich wird, in die Region der gesellschaftlichen Eliten vorzustoßen. Schließlich rennt er gegen die Schranken des ihn umgebenden Systems an. Er nutzt seine in der Vergangenheit versendeten Viren, um die „Lebenslinien“ aus der zentralen Datenbank zu „befreien“ und in der Matrix des Internets unabhängig werden zu lassen. Dahinter steckt natürlich die Idee einer Demokratisierung der Daten, die sich der Held auch auf die Fahnen schreibt. Gleichzeitig sorgt Cassio mit dieser „Freizügigkeit“ für den möglichen Missbrauch und „Kommodifizierung“ der „Lebenslinien“, wie es im Roman heißt.
Was Foucault vorhersagte
Pola Oloixarac setzt in Kryptozän nichts weniger als die biopolitische Regierung des Lebens in Szene, wie sie Michel Foucault als grundlegend für die neoliberale Gouvernementalität ansieht. Deshalb kommt dem Erzählstrang im 19. Jahrhundert, der die surreal wirkenden Wunder der Natur in ein wissenschaftliches Konzept zu fassen vermag, auch so große Bedeutung zu. Die Autorin schlägt einen Bogen hin zu ihrer Zukunftsfiktion.
Das alles setzt Pola Oloixarac literarisch ungemein pointiert um, inklusive der sozialen und kulturellen Milieus der Figuren. Ein kritischer Zugang zu diesem heiß diskutierten Thema, das Datenschützer, Hacker, Philosophen, Aktivisten und Politiker auf die Barrikaden bringt, fehlt in ihrem Roman jedoch. Eine fiktionale Wirklichkeit wird umstandslos abgebildet, so wie die Wissenschaft gern für sich behauptet, die Realität einfach nur zu spiegeln.
Info
Kryptozän Pola Oloixarac Timo Berger (Übers.), Wagenbach 2016, 192 S., 20 €
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