Ist eine Coming-of-Age-Geschichte, die sich an Religion und autoritären kirchlichen Strukturen abarbeitet, heute noch zeitgemäß? Angesichts der Massen christlicher Jugendlicher in den USA, der evangelikalen Unterstützung für Jair Bolsonaro und des strammen Zusammenspiels von Kirche, Politik und Staat in diversen osteuropäischen Ländern muss man mit einem unumwundenen „Ja!“ antworten. Insofern ist die Verfilmung von Philip Pullmans 90er-Jahre-Trilogie His Dark Materials als Koproduktion von BBC und HBO die Umsetzung eines durchaus zeitgemäßen Stoffs. Wenngleich der Autor seine in 40 Sprachen übersetzten Romane zu einer Zeit verfasste, als die Kirche auch in Westeuropa noch etwas mehr Einfluss auf lebensweltliche Fragen hatte als heute. Nach der ersten Staffel von 2019 gibt es seit Ende Dezember acht neue Folgen der Fantasy-Erzählung um die heranwachsende Lyra Belacqua (Dafne Keen), die in einem parallelweltlichen Oxford aufwächst.
In Lyras Welt besitzt jeder Mensch einen Dämon. Bei Kindern ist das ein formwandelndes Tier, das sie als eine Art Geist begleitet und erst bei Erreichen der Pubertät eine feste Gestalt annimmt. Regiert wird diese in der Serie sehr schön mit Steampunk-Elementen inszenierte Welt voller seltsamer Apparate und durch den Himmel schwebender Luftschiffe von einer Macht namens Magisterium, einem autoritären kirchlichen Staatsapparat. Lyras Vater, ein Wissenschaftler, der auf Forschungsreisen im Norden eine geheimnisvolle Substanz, genannt „Staub“, entdeckt hat, liegt im Clinch mit den Behörden, die in ihm einen Ketzer sehen und ihn einsperren wollen. Er flieht aus Oxford, um seine Forschungen im Polarkreis fortzusetzen, Lyra folgt ihm. Neben autoritären, in einem fort Ränke schmiedenden, priesterähnlichen Beamten und fahrendem Volk, das auf Schiffen die Flüsse Englands hinabschippert, neben über den Himmel rasenden Hexen, in Rüstungen kämpfenden Eisbären und geheimnisvollen Laboren im ewigen Eis gibt es in dieser Geschichte voller Kampf und Magie auch Portale in andere Welten. Der „Staub“, so stellt sich in Staffel zwei heraus, die teils auch in unserer Welt spielt, ist das, was die Wissenschaft (in unserer Dimension) dunkle Materie nennt. Nur ist die in Pullmans Epos ein denkender, fühlender Stoff, der zu Menschen Kontakt aufnimmt und Reisen zwischen verschiedenen Welten ermöglicht.
Gegenstück zu „Narnia“
Der 1946 geborene und sich selbst gerne als Atheisten feiernde Pullman entwarf His Dark Materials als postmoderne Teenager-Variante von John Miltons Paradise Lost. Milton erzählte in seinem Mitte des 17. Jahrhunderts veröffentlichten Versepos vom Sündenfall der Engel; es ist ein überaus politischer Text im Sinne einer Parteinahme gegen die Monarchie. Pullmans Trilogie, die als intertextuelles Feuerwerk auch Literaturwissenschaftler begeistert, bedient sich neben Milton auch in der Bibel, bei Dante, Vergil, William Blake und wird von einigen gerne als kritisches Gegenstück zu C.S. Lewis’ christlich geprägter Jugendbuchreihe Chroniken von Narnia gesehen. Eine Verfilmung des ersten Bandes gab es schon 2007, prominent besetzt mit Nicole Kidman und Daniel Craig. Wobei die scharfe Kritik am kirchlichen Apparat in der nie über den ersten Teil hinausgekommenen Kinoadaption praktisch fehlt. Was einmal mehr zeigt, dass (Mini-)Serien vielleicht das überlegene Format sind, um Stoffe in ihrer angemessenen Komplexität umzusetzen.
Die bildgewaltige Serie, die den Zuschauer in ein verzaubert altertümliches Oxford, in geheimnisvolle Landschaften spiegelglatter Seen, finstere Wälder und in abgelegene proletarische Siedlungen führt, lebt jedoch auch von der heutigen Tricktechnik. So schießen hier die gegen das Magisterium kämpfenden Hexen mit atemberaubender Geschwindigkeit wie Superhelden durch den Himmel, was optisch gut umgesetzt wird, und die sprechenden Eisbären wirken auch nicht wie niedliche Teddys. Dass die Serie außerdem die Dramaturgie leicht abändert und Teile des zweiten Buches schon in der ersten Staffel zu sehen waren, erhöht noch die Spannung eines Epos, das mit fortschreitender Handlung komplexer wird. Wobei die Serie insgesamt sehr nah an der Buchvorlage bleibt und Philip Pullman bei der Serienproduktion mit von der Partie ist.
Aber es ist vor allem der Kampf der jungen toughen Lyra gegen bornierte alte Männer, der der Serie ihre Spannung verleiht. Mit ihrem Freund Will erforscht sie in der zweiten Staffel gemeinsam die Geheimnisse von Staub, Magie und parallelen Welten. Dabei kämpfen sie fortwährend um eine eigenständige Entwicklung gegen äußere Zwänge, egal ob es ihre Eltern, das Erziehungssystem oder religiöse Autoritäten sind. Das Bestehende wird stets forschend und voranschreitend infrage gestellt.
His Dark Materials ist eben keine Fantasy, in der es wie in Tolkiens mit christlichen Bezügen vollgestopftem Werk um die Erfüllung eines Schicksals oder um einen plumpen exterminatorischen Gut-Böse-Endkampf geht. Pullmans Werk ist ein komplexes Labyrinth voller Schattierungen, das vom emanzipatorischen Kampf junger Menschen erzählt.
In der Fantasy wird seit Jahrzehnten über die Frage gestritten, wie emanzipatorisch das Genre überhaupt sein kann. Der literaturwissenschaftliche Hohepriester der Fantastik, Darko Suvin, unterstellte der Fantasy schon vor Jahrzehnten protofaschistische Tendenzen. Prominente Fantasy-Autoren wie China Miéville und eben Pullman wehren sich dagegen, und His Dark Materials liefert den Beleg dafür. Als gut gemachte Serie erreicht sie nun hoffentlich auch jene Heranwachsenden, die mit einem kritischen literarischen und popkulturellen Turn in Sachen Religion etwas anzufangen wissen.
Info
His Dark Materials Jack Thorne USA/GB 2019 – 2020, Anbieter: Sky
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