Das ambivalente Prekariat

Die Buchmacher Der Ökonom Guy Standing hat ein Buch über das eigentlich progressive Potential der wirtschaftlich wie politisch abgehängten Klasse geschrieben
Ausgabe 47/2016

Als Globalisierungsverlierer gilt in den westlichen Industrienationen die untere Mittelschicht. In Zeiten von Krise und Spardiktaten steigt überdies die Anzahl prekär Beschäftigter immer weiter an. Spätestens nach Donald Trumps Wahlerfolg stellt sich für viele nun die Frage, ob genau in diesem gesellschaftlichen Segment die potenziellen Unterstützer und Wähler rechtspopulistischer Bewegungen und Parteien zu finden sind. Der britische Ökonom Guy Standing, Autor zweier spannender Bücher über das Prekariat, verweist schon lange auf die Gefahr, dass Rechtspopulisten den Unmut dieser ökonomisch und politisch abgehängten Schicht bedienen.

Prekariat. Die neue explosive Klasse (Unrast 2015)war sein erster Band betitelt, dessen Nachfolger Eine Charta des Prekariats. Von der ausgeschlossenen zur gestaltenden Klasse nun jüngst in deutscher Übersetzung erschienen ist. Eigentlich, schreibt Standing darin, besitzt jene „Klasse im Entstehen“ das Potenzial für eine progressive politische Ausrichtung, wie sie im Zuge weltweiter Krisenproteste sichtbar geworden sei: Bei Occupy, den spanischen Empörten und in Unistreiks engagierten sich vor allem gut ausgebildete Akademikerinnen, die auf den Arbeitsmärkten kaum Chancen haben, in unsicheren Jobs weit unter ihrem Ausbildungsniveau für geringen Lohn arbeiten und sich zahlreich von Studienkrediten in eine Schuldenfalle haben locken lassen.

Als dahingehend paradigmatisch gilt Standing der Text Communiqué from an Absent Future, Hochschulprotesten in Kalifornien 2009 entsprungen und auch in hiesigen Studierendenstreiks wie in der linken Szene aufmerksam rezipiert. Der Text bringt Prekarisierung auf den Punkt: „Das allzu bereitwillige Motto der Ausbildungsgeneration ist ‚Arbeite hart und mach dich rar‘. Doch wofür? – um Herzen in Cappuccinoschaum zeichnen zu können.“

Neben verschuldeten Akademikern mit fatalen Jobaussichten stellen ungelernte Niedriglohnarbeiterinnen und Transferleistungsempfänger wie auch Migranten das Prekariat. Zentrales Anliegen des Buches, dessen 29-Punkte-Charta titelgebend ist: die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen. Letztlich gehe es darum, Arbeit neu zu definieren und reproduktive Tätigkeiten von Kindererziehung bis Krankenpflege anders zu bewerten.

Auf ein Grundeinkommen als Kernstück solcher Politik greifen aber auch rechtspopulistische Parteien wie die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) in Italien zurück, die sich im Zuge des bevorstehenden Verfassungsreferendums in Italien als Anti-Establishment-Bewegung zu profilieren versucht. Für Standing ist deren wirtschaftspolitisches Programm mit einem geplanten Abbau der Staatsverwaltung und damit einhergehender Kapitalfreiheit neoliberal und elitär. Es sieht weitgehende Privatisierungen vom öffentlichen Transportwesen bis zu den Universitäten sowie stramme Einschnitte im öffentlichen Dienst vor und stellt Forderungen der Rechten noch in den Schatten. Gleichzeitig zelebriert M5S eine feindliche Haltung gegenüber Gewerkschaften. Gleichwohl versteht diese Partei mit der Forderung nach einem Grundeinkommen von 1.000 Euro im Monat durchaus auf der sozialpolitischen Klaviatur zu spielen, die für das Prekariat interessant ist.

„M5S steckt voller gefährlicher Züge, die zu einer Spaltung in eine neofaschistische und eine egalitäre Bewegung führen könnten“ – Standing stellt prognostische Qualitäten unter Beweis, nicht nur mit Blick auf Italien. Das englische Original des Buches nämlich ist 2014 erschienen.

Info

Eine Charta des Prekariats Guy Standing Sven Wunderlich (Übersetzung), Unrast 2016, 336 Seiten, 19,80 €

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