Das Wort Demokratie dürfte derzeit angesichts der Aufstände und Proteste in Nordafrika, in der arabischen Welt und in Spanien einer der am häufigsten verwendeten Begriffe in den Medien sein. Nur: was verbirgt sich genau hinter dem so inflationär gebrauchten Wort? Damit, was Demokratie ist oder sein kann, beschäftigt sich der französische Philosoph Jacques Rancière in seinem neuesten auf Deutsch erschienenen Buch Der Hass der Demokratie. Rancières Texte gelten als schwierig, nicht zuletzt wegen seines anspruchsvollen literarischen Stils. Vergleichsweise einfach liest sich der jetzt im Berliner August-Verlag erschienene Essay über Demokratie, der im französischen Original schon 2005 publiziert wurde. Auf Englisch, Italienisch und Spanisch ist das Buch bereits seit Jahren auf dem Markt. Dass Leser zeitgenössischer Philosophie hierzulande besonders lange auf Übersetzungen warten müssen, ist nicht neu. Giorgio Agambens Homo Sacer erschien 1995 im italienischen Original, erst 2002 kam das Buch in Deutschland übersetzt auf den Markt.
Neben der Ästhetik ist Rancières großes Thema, dem er sich in seinem wohl bedeutendsten philosophischen Werk La Mésentente (Das Unvernehmen, Suhrkamp 2002) widmet, die Frage nach dem Wesen der Politik. Er begreift es als ein Aufeinandertreffen unversöhnlicher Positionen, als Streit; ein Wesen, das in unserer konsensorientierten Welt des Politischen stetig negiert wird. Darauf aufbauend geht er in Der Hass der Demokratie fast detektivisch dem nach, was er als Demokratie zu definieren versucht, wobei schnell klar wird, dass das „demokratische Leben“ im Rancière’schen Sinn schwer zu bestimmen ist. Denn die Demokratie ist für ihn weder ein Verfassungstypus noch eine Gesellschaftsform. Es ist vielmehr ein anarchisches Element, das sich kaum kontrollieren oder einfrieden lässt. In Rancières Worten ist es „die Macht, die denjenigen eigen ist, die weder zum Regieren bestimmt sind noch zum Regiertwerden“. Der Titel gebende „Hass der Demokratie“ ist laut Rancière eine Reaktion der Demokratiegegner.
Politischer Alltag
Hier findet er zwei Positionen, die seiner Meinung nach dem demokratischen Leben feindlich gesonnen sind. Zum einen versteht Rancière den Staat als Spiel oligarchischer Kräfte, die sich in dem manifestieren, was er als Expertenrepublik bezeichnet. Diese Kräfte verstehen das demokratische Leben als Bedrohung, da es ihnen das Regieren immer erschweren muss. Auf der anderen Seite geht Rancière sehr kritisch mit jenen linken Positionen um, die in der Demokratie vor allem die Staats- und Gesellschaftsform des Kapitalismus sehen. Hier, so Rancière, wird der Individualismus des egoistischen Konsumenten überbetont und als Zumutung missverstanden. Dabei hängen beide Positionen zusammen, denn Rancière sieht durch die Expertenregierungen „die Masse von der Sorge des Regierens entlastet“ und dadurch „ihren privaten und egoistischen Leidenschaften überlassen“. Die Demokratie dagegen, so Rancière, ist „die Tätigkeit, die den oligarchischen Regierungen unaufhörlich das Monopol über das öffentliche Leben und dem Reichtum die Allmacht über das Leben aller entreißt“.
Jacques Rancière gehört, anders als Slavoj Žižek oder Giorgio Agamben, noch nicht zu den Philosophen, deren Bücher hierzulande nach Erscheinen prompt rezensiert werden. Dennoch fällt auf, dass Der Hass der Demokratie in keinem einzigen Feuilleton auftauchte, obwohl der Text für ein breites Publikum jenseits des akademischen Betriebs angelegt ist. Ein Grund mag sein, dass der recht junge August-Verlag, der sich als Forum für Theorie im Schnittpunkt von Philosophie, Politik und Kunst versteht, noch zu unbekannt ist.
Entstanden ist Der Hass der Demokratie nach dem Nein der Franzosen zum EU-Referendum im Mai 2005. Das demokratische Leben, über das Rancière schreibt, ist also in diesem Fall nicht nur eine abstrakte philosophische Kategorie, sondern ganz pragmatischer politischer Alltag. So nimmt er in dem Büchlein auch Bezug auf das Abstimmungsergebnis des Referendums und die Reaktion der Politiker. Außerdem analysiert er die Diskussion um die französische Schulreform, ein Thema, das trotz des Frankreichbezugs durchaus eine allgemeine, darüber hinausgehende Gültigkeit besitzt.
Rancière ist nicht der einzige französische Philosoph, der mit einem derartigen Text in öffentlichen Diskussionen interveniert. Er steht in einer Reihe mit Alain Badiou, der in seinem kurzen Band Wer ist Nicolas Sarkozy? nicht nur einen Abgesang auf die französische Linke, sondern auch einen kurzen Abriss seiner zentralen geschichtsphilosophischen Thesen liefert, und mit den unbekannten Autoren des Manifests Der kommende Aufstand, welches als Interventionstext des französischen philosophischen Nachwuchses gelesen werden kann. Hierzulande gibt es diese Textart leider nicht. Zumindest ist Jacques Rancières sechs Jahre alter, aber immer noch brandaktueller Text nun endlich auch auf Deutsch erhältlich.
Der Hass der DemokratieJacques Rancière August Verlag 2011, 102 S., 16
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.