Das geteilte New York

Literatur Colson Whiteheads neuer Roman erzählt vom Rassismus der 1950er
Ausgabe 36/2021
New York City, Harlem, ca. 1968
New York City, Harlem, ca. 1968

Foto: Michael Orchs Archives/Getty Images

Seit einigen Jahren gehört ein kritischer Umgang mit Rassismus zum festen Bestandteil des US-amerikanischen Kulturbetriebs. Besonders historische Stoffe erfreuen sich großer Beliebtheit, um die verschüttete Geschichte des schwarzen Amerika freizulegen, sichtbar zu machen und mit der Gegenwart zu verknüpfen. Netflix produzierte 2019 eine Miniserie über die Central Park Five, eine wahre Geschichte über fünf Teenager aus Harlem, die 1989 fälschlicherweise wegen Vergewaltigung einer Joggerin verurteilt wurden. HBO hat gleich in zwei Serien (Lovecraft Country und Watchmen) das für viele zuvor unbekannte Tulsa-Massaker von 1921 in Szene gesetzt, dessen 100. Jahrestag unlängst sogar im Beisein von Joe Biden begangen wurde. In der Literatur ist Colson Whitehead eine der wichtigsten Stimmen des schwarzen Amerika. In Nickel Boys (2019) erzählt er von rassistischen Zuständen in Erziehungsheimen der 1950er. Im preisgekrönten, gerade als Serie verfilmten Roman Underground Railroad (2016) schreibt der 1969 geborene Autor über die Sklaverei im 19. Jahrhundert.

In Harlem Shuffle, seinem neuen Roman, widmet sich Whitehead nun wieder den 1950er und den beginnenden 1960er Jahren, aber diesmal geht es in seine Heimatstadt New York, nach Harlem. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der Kleinunternehmer Raymond Carney, der einen Möbelladen betreibt und fleißig am ökonomischen und sozialen Aufstieg seiner Familie arbeitet. Das ist aber mit Hürden verbunden, denn die großen Möbelhersteller liefern nicht in den vor allem von Schwarzen bewohnten Bezirk. Also muss Raymond immer wieder nach Downtown fahren und dort die neuesten stilvollen Möbel besorgen, um seine schwarze Kundschaft zu versorgen.

Von diesem Möbelladen aus fächert Colson Whitehead ein ganzes Panorama schwarzer Geschichte in New York auf, das in seinem Roman vor allem eine geteilte Stadt ist. Im Süden der Halbinsel, wo die Weißen leben, ist alles schick und mondän, während im Norden Armut vorherrscht und Polizeigewalt an der Tagesordnung ist.Raymond Carney wandelt zwischen diesen beiden Welten, findet im reichen Süden der Stadt Verbündete, macht sich aber auch Feinde. Whitehead widmet sich in Exkursen aber auch anderen schwarzen Communitys der Stadt, so auch jener afroamerikanischen Gemeinde namens Seneca, die Mitte des 19. Jahrhunderts enteignet und geräumt wurde, um den Central Park zu bauen. Diesem lange Zeit nicht wahrgenommenen Stück Geschichte widmete sich in New York vor einigen Jahren sogar eine eigens eingerichtete Forschungsstelle. Der Fokus in Whiteheads Roman bleibt aber auf der Familiengeschichte der Carneys, die er genial mit der Zeitgeschichte verknüpft.

Da ist Raymonds Cousin Freddie, ein drogenabhängiger Beatnik, der den um ein bürgerliches Ansehen ringenden Familienvater immer wieder in schräge Geschichten hineinzieht, bis etwas aus dem Ruder läuft in jener Nacht .... – an dieser Stelle bekommt der Roman plötzlich brisante Aktualität. Denn wie nach dem Tod von George Floyd gehen auch im Sommer 1964 die Menschen auf die Straße und es kommt zu den legendären Harlem Riots, die maßgeblich zum Ruf des schwarzen widerständigen Viertels beigetragen haben. Wobei sich die Carneys selbst gar nicht an der Revolte beteiligen. Raymond stellt sich sogar mit einem Baseballschläger in seinen Laden, an dem ein Schild hängt: „Schwarzer Eigentümer und Betreiber“. Whitehead glorifiziert nicht den Aufstand, er erzählt, wie sein Held in diesem historischen Moment ein neues Selbstverständnis als schwarzer Bewohner New Yorks entwickelt. Harlem Shuffle ist so viel, ein historisches Großstadt-Epos, Polit-Drama, eine einfühlsam geschriebene Familiengeschichte, in jedem Fall ein absolut lesenswerter Roman.

Harlem Shuffle Colson Whitehead Nikolaus Stingl (Übers.), Hanser 2021, 384 S., 25 €

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