Der rote Sokrates

Philosophie Alain Badiou will die Jugend auf den rechten Weg führen – indem er sie verdirbt
Ausgabe 45/2016

Diesen Sommer, als es wochenlang zu Streiks, Blockaden, Demonstrationen und Straßenschlachten kam, schien das sonst so massive französische Herrschaftsgefüge ins Wanken zu geraten. Frankreichs Version der Agenda 2010 wurde nicht einfach geschluckt. Schlummerte in unserem Nachbarland das Potenzial für den kommenden großen Aufstand?

Jedenfalls scheint Frankreich auch 50 Jahre nach dem Pariser Mai der westeuropäische Hort widerständiger politischer Praktiken zu sein, bei der die Jugend eine zentrale Rolle spielt – dem dauerhaften Ausnahmezustand zum Trotz. Da passt es, dass der bekannte Philosoph Alain Badiou ein Manifest vorlegt, in dem er sich an diese gerade wieder revoltierende Jugend richtet. Der gut 100-seitige Essay mit dem gewitzten Titel Versuch, die Jugend zu verderben analysiert die Situation von jungen Menschen, die durch die Globalisierung und ihre Folgen eine neue und radikale Form der Desorientierung erleben.

Freier als früher

Der 79-jährige Badiou sieht sich dabei in der Tradition Sokrates’, dem der Vorwurf gemacht wurde, die Jugend zu verderben. Der bekennende Kommunist versteht darunter ganz praktisch, „gegen den blinden Gehorsam, gegen die ungerechten Bräuche und den grenzenlosen Wettbewerb“ zu kämpfen. Stattdessen gehe es darum, eine andere Sichtweise auf das „wahre Leben“ zu entwickeln. Es ist nicht Alain Badious erste Intervention dieser Art, man erinnert seine Streitschrift gegen Nicolas Sarkozy und, erst im Frühling, seinen Essay zu den Terroranschlägen in Frankreich. Der Versuch, die Jugend zu verderben darf entsprechend als Reaktion auf die jüngsten Protestbewegungen in Frankreich verstanden werden.

Der heutigen Jugend attestiert Badiou, dass sie freier ist als ihre Vorgängergenerationen. Es gibt deutlich weniger Zwänge; klassische Initiationsriten, durch den Militärdienst oder die Heirat, existieren nicht mehr oder haben ihre frühere zentrale Bedeutung eingebüßt. Das hat aber Konsequenzen, wobei Badiou zwischen Jungen und Mädchen unterscheidet. Dabei führt er seine erwachsenen Söhne und seine Tochter als Kronzeugen an, als hätten sie dem Grandseigneur der französischen Gegenwartsphilosophie die Texte abgesegnet. Die Söhne, beklagt Badiou, würden in eine anhaltende Adoleszenz gezwungen, die in einer regelrechten Dressur zum Konsum ihren Ausdruck finde. Die Töchter dagegen müssten bereits als Kinder Verantwortung übernehmen und vor der Zeit erwachsen werden. In dieser Situation einer grundlegenden Desorientierung böten sich den jungen Menschen zwei Wege an: sich der Ordnung zu fügen, um im kapitalistischen Wettbewerb erfolgreich zu sein, oder aber in eine faschistoide Reaktion zu verfallen, wie das fundamentalistische Christen, Ultrarechte oder Islamisten tun.

Und was wäre die Alternative? Wie kann die Jugend eine neue Sichtweise auf das „wahre Leben“ entwickeln? Alain Badiou fabuliert in seinem Essay auch über mögliche Praktiken, Strategien und Bündnisse gegen die bestehende Ordnung, um zu jener „Verachtung der Macht und des Staats“ zu kommen, die Sokrates gefordert haben soll. Haben die Protestbewegungen der vergangenen Jahre eine Chance geboten, die Ordnung radikal in Frage zu stellen? Oder kann das nur die kollektivistische Idee des Kommunismus, wie Alain Badiou es nennt? Diese, sagt der Philosoph, sei die einzige Bewegung, die den Gegenpol zur kapitalistischen Ideologie und zur faschistoiden Reaktion biete.

Bewegungen wie Occupy steht der Ex-Maoist dagegen skeptisch gegenüber. Sie formulierten lediglich die Interessen einer prekarisierten unteren Mittelschicht in den westlichen Industrienationen. Die sind zwar in der Tat die ökonomischen Verlierer der Globalisierung. Aber revolutionäres Potenzial können sie nur entwickeln, wenn sie sich mit den Ärmsten der Welt verbünden.

Aber wie soll das denn funktionieren? Badiou nennt historische Vorbilder: der Maoismus der 1960er und 1970er Jahre, der antiimperialistische Ansatz des Weather-Underground in den USA oder zuletzt die militant agierenden Oaklander Black-Bloc-Aktivisten, die ihre Kämpfe im Zuge der Krisenproteste mit den kalifornischen Hafenarbeitern für erfolgreiche Blockaden kurzschlossen. Wobei Alain Badiou realistisch genug ist, festzustellen: „Der Erfolg eines derartigen Bündnisses hängt voll und ganz davon ab, ob und wie es auf einer internationalen Ebene politisch organisiert wird.“

Gegen die Vereinzelung

Von derartigen politischen Kräfteverhältnissen sind wir weit entfernt. Das belegt auch die Befriedung der Proteste in Frankreich. Badious Essay scheint ein Stück weit Ausdruck dieser heiklen Situation zu sein. Ein Ereignis, wie es etwa der Pariser Mai 1968 mit seinen Protest- und Revolutionswellen darstellte, ist aktuell nicht in Sicht – obwohl Protestbewegungen und soziale Kämpfe weltweit signifikant zugenommen haben. Und meist ist die von Badiou adressierte Jugend darin aktiv.

Interessanterweise verzichtet Alain Badiou in seinem neuen Essay auf ein für junge Menschen womöglich orthodox links klingendes Vokabular. Geschickt schreibt er an den Bruchlinien der aktuellen politischen Kräfteverhältnisse entlang. Der Versuch, die Jugend zu verderben ist kein platter Aufruf zum Aufstand, sondern ein an den sozialen, kulturellen und politischen Gegebenheiten orientierter Appell gegen die Vereinzelung und für die Herausbildung kollektiver Handlungsmacht. Man kann das eine Streitschrift für den Kommunismus nennen.

Info

Versuch, die Jugend zu verderben Alain Badiou Tobias Haberkorn (Übers.), Suhrkamp 2016, 111 S., 10 €

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