Die Gretchenfrage

Linke Sind digitale Technologien per se kapitalistisch? Zwei neue Bände widmen sich dieser Frage
Ausgabe 22/2017

Das Thema Digitalisierung scheint wieder einmal im Kommen. Von Industrie 4.0 über die neuesten Smartphones bis hin zu autonom fahrenden Autos und Drohnen schlägt sich der digitale Umbau unserer Gesellschaft in Feuilletons, Fernsehdiskussionen und Buchveröffentlichungen nieder. Neben viel Begeisterung für die schöne neue Welt werden auch immer wieder Ängste und Sorgen formuliert. Viele Menschen, vor allem ältere Mitbürger, fühlen sich schlicht abgehängt. Das Thema ist natürlich auch politisch aufgeladen.

Während die Apologeten der kalifornischen Ideologie wie der Paypal-Gründer und Silicon-Valley-Investor Peter Thiel oder auch Bill Gates sich von der Informationsgesellschaft einen krisensicheren Kapitalismus erhoffen, wird von den Gewerkschaften aus Sorge um Arbeitsplatzverluste große Skepsis vorgebracht, andere Linke wie die Akzelerationisten erwarten sich den „Fully Automated Luxury Communism“. Wie breit das Feld der Positionen bei diesem Thema ist, zeigt ein neuer Sammelband mit dem aussagekräftigen Titel Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen.

Vorbild Chile

In zwölf längeren, gut lesbaren Texten aus dem soziologischen und medientheoretischen Wissenschaftsbetrieb geht es vom Darknet über digitale Datenauslese zur Überwachung und Erstellung von Bewegungsprofilen bis hin zu feministischen Perspektiven auf den digitalen Wandel der Gesellschaft. In vielen Texten wird dabei die Gretchenfrage der Linken gestellt: Gibt es kybernetische Systeme oder neue Technologien, in die nicht per se eine kapitalistische Logik eingeschrieben ist? Kann diese Technologie vielleicht sogar helfen, den Kapitalismus zu überwinden – und ist in ihr nicht darüber hinaus ein Vorschein einer anderen Form von Arbeit und Gesellschaft schon zu erkennen?

Dagegen spricht der Fakt, dass die digitale Entwicklung im Großen und Ganzen immer einer profitorientierten Logik unterworfen wurde. Die stets ins Feld geführte Fähigkeit des Neoliberalismus, in jeden Winkel unseres Alltagslebens vorzudringen und es warenförmig in Wert zu setzen, wird durch digitale Technologien ermöglicht. Davon sprechen die Erfolgsgeschichten der Wohnungsvermittlungsplattform Airbnb oder der Taxi-App Uber.

Gegen den trüben Augenschein steht die glänzende Theorie: Das Digitale kann durchaus das Sprungbrett für eine postkapitalistische Welt werden, propagierte unlängst der britische Autor Paul Mason in seinem Bestseller Postkapitalismus. Ähnlich argumentieren die Akzelerationisten als neueste Spielart linker Gesellschafts- und Wirtschaftstheorie. Von Nick Srnicek, einem der Vordenker dieser Richtung, ist ebenfalls ein Text in dem Band enthalten.

Srnicek und andere Autoren des vorliegenden Bandes beziehen sich immer wieder auf das Cybersyn-Projekt der chilenischen Allende-Regierung, das auch als „sozialistisches Internet“ bekannt wurde. Das Wirtschafts-Koordinationssystem bestand aus einem der ersten industriellen IBM-Rechner und 400 Fernschreibern und sollte 1972/73 eine technologische Analogie zum blockfreien Sozialismus in Abgrenzung zur Planwirtschaft sowjetischer Prägung sein. Die Kybernetik als praktisch angewandte Wissenschaft, um Arbeitsabläufe systematisch planen und koordinieren zu können, wurde in der Ära des Kalten Krieges ebenso von Kapitalisten wie von Kommunisten als Bestätigung ihrer jeweiligen ideologischen Vorstellungen verstanden. Heute dient die Kybernetik vor allem der praktischen Optimierung wirtschaftlicher Abläufe – nicht immer im Sinn der Arbeitnehmer und Konsumenten. Cybersyn sollte dagegen vor allem eine selbstorganisierte Vernetzung wirtschaftlicher Akteure ermöglichen. Über einen Probelauf kam das Projekt letztlich aber leider nie hinaus, denn nach dem Putsch der Junta-Generäle 1973 wurde das Cybersyn-Kontrollzentrum in Santiago de Chile zerstört.

Auch wenn der theorielastige Band unterschiedliche linke Diskussionsstränge um eine technophile oder technikkritische Haltung in Sachen Kybernetik und Digitalisierung gut abbildet, bietet er letztlich natürlich keine abschließende Antwort darauf, ob digitale Technologien auch per se revolutionär oder anti- beziehungsweise postkapitalistisch sein können. Die Texte wollen sich vielmehr gerade mit der „Ambivalenz vieler Technologien auseinandersetzen“, um ebenso das Potenzial von Gefahren wie die damit verbundenen Versprechen auszuloten. Und das funktioniert sehr gut.

Viel Skepsis

Neben solchen theoretischen Überlegungen geht es in den gesellschaftspolitischen Debatten um den digitalen Wandel natürlich auch um ganz praktische politische Aushandlungsprozesse. In seinem Buch Das Netz in unsere Hand! propagiert der Mediensoziologe (und Freitag-Autor) Thomas Wagner ein Internet, das ähnlich wie Fernsehen und Rundfunk einer öffentlich-rechtlichen Kontrolle unterworfen wird. Ob das nur ein keynesianischer Beißreflex ist oder eine politische Strategie sein könnte, müsste noch diskutiert werden. Angesichts des derzeitigen Rechtsrucks sollte dem Staat als Anbieter und Verwalter einer Netzstruktur aber auch erst einmal gehörig misstraut werden. Thomas Wagners Buch bietet zudem einen guten Überblick, welche ideologischen Interessen und welche Ambitionen ganz praktischer ökonomischer Natur das Silicon Valley hat – und zum Teil in Form von Stiftungen auch schon in den hiesigen Hochschulen geltend macht.

Marc Zuckerberg wurde kürzlich in Berlin ja fast wie ein Staatsgast empfangen. Dennoch sollte die gebotene Skepsis gegenüber Google und Co. keine eindimensionale Kapitalismuskritik befördern. Schließlich haben das erfolgreiche Inwertsetzen von Big Data und das Targeting anhand von Bewegungsprofilen bis hin zu digitalen sicherheitsarchitektonischen Praktiken wie Predictive Policing auch mit der Bereitschaft zu tun, unsere Daten im Netz freiwillig zur Verfügung zu stellen.

Info

Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen Paul Buckermann u.a. (Hg.) Unrast 2017, 304 S., 19,80 €

Das Netz in unsere Hand! Vom digitalen Kapitalismus zur Datendemokratie Thomas Wagner PapyRossa 2017, 166 S., 13,90 €

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