Ein Tausendfüßler

Fortschrittslehre Dietmar Daths und Barbara Kirchners Welterklärungswerk „Der Implex - Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee“ ist die spektakulärste Großbuchbaustelle dieses Frühjahrs

Schon wahr, Dietmar Dath und Barbara Kirchner haben sich in ihrem gut 800 Seiten dicken, philosophie-, ideen- und kulturgeschichtlichen Welterklärungsbuch Der Implex – Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee sehr viel vorgenommen. Der Schriftsteller und die Professorin für theoretische Chemie wollen nichts weniger, als diejenigen Ereignisse in der Geschichte der Menscheit aufspüren, in denen sozialer Fortschritt stattfand. Sozialer Fortschritt, das riecht arg nach Sozialdemokratie, aber davon findet sich in diesem Buch dann doch herzlich wenig. Marx, Lenin und Peter Hacks heißen die Denker, auf die am häufigsten positiv verwiesen wird.

Mehr als der reale soziale Forschritt interessiert die beiden Autoren aber der Fortschritt, der hätte stattfinden können. Es geht ihnen um das, „was möglich war, aber nicht wurde“. Der titelgebende Implex meint das „Verhältnis zwischen erstens allem, was war und nicht zu ändern ist, zweitens allem, was sein könnte und (…) drittens allem, was man wollen kann“. Für diese Form von Geschichtsbetrachtung im Potentialis haben Dath und Kirchner griffige Bilder gefunden: So ist die Rede vom „Tausendfüßler“ der Geschichte, im Gegensatz zu Rosa Luxemburgs „Maulwurf“. Und die nicht eingelösten Optionen sozialen Fortschritts im Lauf der Geschichte sollte man sich als eine Autobahnfahrt mit verpassten Abfahrten vorstellen.

Der Implex will so die Möglichkeitsgeographie des sozialen Fortschritts zugänglich machen; es ist ein Buch, das eine andere Welt einfordert, ein politische Buch also. Dabei schlägt es große Bögen. „Was verbindet den Sklaven auf der antiken Großbaustelle mit dem prekarisierten Erwerbslosen im Internetcafé?“, lautet eine der Eingangsfragen. Auf den ersten Blick natürlich recht wenig, aber Dath und Kirchner zielen auf Grundsätzliches. Der über 800 Seiten lange Ritt durch die Geschichte hätte denn auch zum ganz großen Wurf werden können. Auch wenn das Buchvorhaben schon lange geplant war, erscheint es nun zu einem Zeitpunkt, da Formen und Inhalte sozialer und politischer Kämpfe auf der Agenda stehen und neu verhandelt werden.

Die Idee, eine Geschichte der Philosophie und ihrer politischen Realisierungen anhand der Frage nach sozialem Fortschritt zu schreiben, klingt dabei ebenso großartig wie von Hybris gezeichnet. Kann man die Fülle des Materials wirklich gedanklich durchdringen und dann auch noch etwas für die Praxis an die Hand geben? Die Beantwortung dieser Frage wird leider verstellt durch eine Philosophieschau, die das Buch nicht sein will, zu der es aber dann leider doch oft wird. Hingebungsvoll wird immer wieder Richard Rorty abgewatscht und die eher unbekannte englische Autorin Anna Laetitia Barbauld als Missing Link zwischen Aufklärung und Kommunismus abgefeiert. Wertkritik, Postoperaismus und Triple-Oppression-Theorie (Seximus, Rassismus, Klassismus) als einige Hauptbaustellen der hiesigen radikalen Linken werden ebenfalls kritisiert. Der Gegensatz Spinoza versus Rousseau fehlt genauso wenig wie Humes Gesetz von Sein und Sollen. Das letzte Wort im munteren Theorie-Hin und -Her hat nicht selten Peter Hacks mit seinen lakonischen Kommentaren.

Pointiert ist das Ganze leider trotz solcher Kommentare nicht. Und auf den Punkt kommen hätte dem ausufernd langen Buch gut getan – etwa, was das Verhältnis des Großbaustellen-Sklaven zu Internetcafé-Erwerbslosen anbelangt. Vielleicht unterbleibt eine Klärung ja aus quasi pädagogischen Gründen, bleibt sie also dem Leser selbst überlassen, aber dessen Kampf durch stilistisch über weite Strecken hanebüchen gedrechselter Schreibe legitimiert sich eigentlich nur durch die Annahme, dass die Einsichten eines Lesers um so tiefer werden, je rigider sein Lustsprinzip unter Aufschub gestellt wird. Rekordverdächtig lange Sätze mit halbseitigen in Klammern gesetzten Einlassungen und ein Who is who der abseitigsten Fachtermini dürfte den einen oder anderen Leser gehörig nerven. Außerdem kommt das Ganze in Form eines Theorie-Hoppings daher, bei dem sogar Slavoj Žižek schwindlig werden könnte.

Ideengeschichtssammlung

Unermüdlich fräsen sich Dath und Kirchner in die Geschichte regelrecht hinein und untersuchen bekannte wie unbekannte Autoren (die ausgiebig zitiert werden) und wegweisende Ideen sozialen Fortschritts. Als große übergeordnete Themen werden Ökonomie, Arbeit, Wissenschaft, Öffentlichkeit, Staat, Liebe, aber ebenso Rassismus, Revolutionsgeschichte, Feminismus und Kulturindustrie abgearbeitet.

Versehen mit einem reichhaltigen Namens- und Stichwortverzeichnis dürfte Der Implex lektüretechnisch am ehesten als Kompendium einer im weitesten Sinn linken Ideengeschichtssammlung zu nutzen sein. Am ergiebigsten ist dabei das letzte und längste Kapitel; „Contes Fantastiques“ – so die Kapitelüberschrift – beschäftigt sich mit dem Erzählgenre der Fantastika: Science-Fiction, Fantasy und Horror. Dath, selbst Verfasser mehrerer Romane aus dem Nahbereich der Fantastika, hat sich auch als Journalist und Autor kontinuierlich mit diesen Genres auseinandergesetzt, unter anderem mit der TV-Serie Buffy the Vampire Slayer, einem der wichtigsten „Texte“ aus dem popkulturellen Horrorkanon, auf den auch im Implex reichlich verwiesen wird, ist doch die Vampirjägerin eine Klassenkampfikone, die dem kapitalistischen Normalvollzug in Form von Vampiren und anderen Monstern zu Leibe rückt.

Mit dem, was Max Weber die Entzauberung der Welt nannte und was für E. T. A. Hoffmann das Gründungsverbrechen des Kapitalismus war (die Vertreibung der Feen), findet laut Dath und Kirchner die Auslöschung der Poesie und der Siegeszug der Prosa als Folge der bourgeoisen Selbstemanzipation statt: der Realismus wird zur „ersten Bürgerpflicht“. Nur ist die Magie ja nicht wirklich verschwunden, sie hat sich vielmehr in der Massenkultur vervielfacht und vervielfältigt.

Ein Roman in Begriffen

In den „unwirklichen Künsten“, die eine „Gegenüberstellung von realistisch behandelter und metaphorisch selbstentfremdeter Welt“ ermöglichen, liegt laut Dath und Kirchner die „wichtigste Leistung der bürgerlichen Ästhetik; man kann sagen: eine Revolution“. In diesem Sinn sind die frühen Utopien als Erzählungen, die vor und während der Aufklärung verfasst wurden (von Morus über Ariost und Kepler bis Voltaire) erste literarische Entwürfe jener „Möglichkeitsgeografie“ sozialen Fortschritts, an der auch Dath und Kircher mitschreiben. In den frühen Zukunftsprojektionen geht es stets um soziale und politische Fragen, egal ob es gesellschaftspolitische Visionen sind wie bei Thomas Morus oder ob wie bei Voltaire in Micromégas ein fünf Kilometer großer Riese vom Sirius und sein Freund vom Saturn über Leibniz, Descartes und Locke diskutieren.

Das Fiktionale ist überhaupt ein grundlegendes Element für den Implex, verstehen Dath und Kirchner ihr Buch doch auch als einen „Roman in Begriffen“, weniger als Manifest, Essay oder wissenschaftliche Abhandlung. Und diesem Anspruch wird das schreibende Duo nicht zuletzt im Schlusskapitel auf eine äußerst charmante Art gerecht. Hier wird auf einigen Seiten ironisch entworfen, wie eine herrschaftsfreie oder doch herrschaftsfreiere Welt aussehen könnte – so der soziale Fortschritt weiter „gemacht“ wird, denn „das Glück ist etwas kunstreich Hergestelltes, nicht irgendeine wieder freigelegte Natur“. In der Zukunft soll es „nicht erpresste, nicht erpressbare“ Menschen geben. Außerdem sagen die beiden weniger Verkehrsunfälle, religiöse Psychosen, ideologische Sehstörungen und Burn-Out-Syndrome voraus, dafür aber mehr Partylärm, tribalistischen Blödsinn, Besserwisserei und schwer erziehbare Kinder. In Amerika regiert ein 15-jähriger Präsident, die nette Frau vom Lokalstromrat tingelt durch die Stadt und wirbt für ihre Wiederwahl, ein Deichaufseher heißt dann Fossegrim Dylan McSchnurrbart und eine berühmte Lastwagenrennfahrerin Aphrodite Kleeblatt-Suzuki.

Ach ja, es gibt übrigens fünf Geschlechter. Einiges davon klingt ziemlich nach Kurt Vonneguts Roman Slapstick oder Nie wieder einsam. Und wenn Dath und Kirchner „Entdeckungsreisen“ prophezeien, die „niemanden erobern, berauben, sortieren, zur Arbeit pressen sollen, die nicht Landnahmen sind noch Bekehrungsfeldzüge”, dann hört sich das auf jeden Fall großartig an und ist als Vorstellung eines sozialen Fortschritts an dieser Stelle sehr gut auf den Punkt gebracht.

Sozialer Fortschritt: Geschichte und IdeeDietmar Dath und Barbara Kirchner Suhrkamp 2012, 880 S., 29,90

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