Habgierige und Habenichtse

Marxistisch John Lanchesters kapitaler Roman über eine Straße im London der Finanzkrise
"Wir wollen, was ihr habt!" - Lanchester beschreibt großstädtische Lebenswelten
"Wir wollen, was ihr habt!" - Lanchester beschreibt großstädtische Lebenswelten

Foto: Gareth Cattermole/Getty Images

Der Titel dieses fast 700 Seiten dicken britischen Großstadtepos von John Lanchester erinnert natürlich nicht von ungefähr an das ebenfalls in London entstandene Hauptwerk von Karl Marx.

Lanchesters Kapital entwirft ein breites Panorama großstädtischer Lebenswelten, die allesamt um eine „Ware“ gruppiert sind: um die Häuser in einer Londoner Straße.

In ihr, der Pepys Road, lebte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das aufstrebende Arbeitertum. Durch die explodierenden Immobilienpreise der letzten Jahre wurden die Backsteinhäuser im viktorianischen Stil indes zu Goldgruben. Nur noch wer es sich leisten kann – Banker oder Fußballstars – zieht in die Gegend. Und die bisherigen Bewohner sind plötzlich reich.

„Es schien, als wären die Häuser lebendig geworden“, heißt es im Prolog. „Sie gaben sich herrisch und gebieterisch, und hatten ihre ganz eigenen Bedürfnisse.“ Ganz wie bei Marx, wo es heißt, der Tisch – als Beispiel für die Ware – „entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.“

"Charaktermasken"

Zu tanzen beginnen in diesem Sinn auch die Häuser der Pepys Road. Nach dem Takt des Kapitals, das im Grunde der heimliche Protagonist des Romans ist. Die Bewohner der Pepys Road haben es, jagen ihm hinterher, verlieren, verteidigen und vor allem: akkumulieren es.

Dabei gerät der reichste Bewohner der Straße, ein schnöseliger Banker namens Roger, der auch alte Clash-Scheiben hört, durch das Geld am meisten unter Druck. Denn als erwartete Bonuszahlungen an Weihnachten ausbleiben, steht er von einem Moment auf den anderen vor dem Ruin, und seine Ehe droht in die Brüche zu gehen. Weitaus besser hat es da der junge Senegalese Freddy, ein Fußballtalent, der einen Vertrag bei einem Club der Premier League unterschreibt und standesgemäß in der Pepys Road residiert – bis er sich bei einem Spiel schwer verletzt und dann monatelang um eine dicke Abfindung streitet. Weitaus prekarisierter ist da die pakistanische Familie Kamal, die einen Kiosk in der Straße betreibt und jeden Morgen friert, um Heizkosten zu sparen. Recht einfach lebt auch die quasi dienstälteste Bewohnerin der Straße, Petunia Howe. Als die Mittachtzigerin stirbt, wird ihre Tochter durch den Hausverkauf plötzlich zur Millionärin.

Obwohl sich die Romanfiguren primär über das Kapital definieren, ja quasi „Charaktermasken“ des selbigen sind (um hier Marx’sche Terminologie zu bemühen), bleiben sie nicht eindimensional. Sie erleben durchaus eine psychologische und soziale Entwicklung im Lauf des Romangeschehens, das von 2007 bis zum Herbst 2008 reicht, als Lehman Brothers pleitegehen.

„Wir wollen, was ihr habt!“ Dieser Satz findet sich auf Postkarten, die eines Tages plötzlich in allen Briefkästen der Pepys Road landen. Dem folgen zerkratzte Autos, beleidigende Graffitis und per Post verschickte tote Vögel. Die Polizei beginnt zu ermitteln, und es findet eine Anwohnerversammlung statt.

Gebieterische Häuser

Wer steckt hinter diesen Einschüchterungsversuchen? Ist es eine militante Anti-Gentrifizierungsgruppe, eine aus dem Ruder gelaufene Kunstaktion oder virales Immobilien-Marketing?

Im Zuge ihrer Ermittlungen greift die Polizei dann recht drastisch ins Leben einzelner Protagonisten ein. Neben einer Anti-Terror-Einheit, die den islamistisch angehauchten Kamal junior in Isolationshaft steckt und einem Dauerverhör unterzieht, werden eine illegale Migrantin ins Abschiebegefängnis gesperrt und ein anonymer Aktionskünstler enttarnt.

Kapital funktioniert auf mehreren Ebenen; das Buch lässt sich als Unterhaltungsroman, Gesellschaftssatire, Großstadtepos, literarischer Gentrifizierungsreport und als Finanzkrisenerzählung lesen. In einer einfachen Sprache entwickelt der ziegelsteingroße Roman einen unglaublichen erzählerischen Sog und erzeugt neben kinoartigen Bildern auch simple, aber in der dramaturgischen Entwicklung äußerst eindrückliche Psychogramme der einzelnen Figuren.

Am Ende haben einige Menschen aus der Pepys Road etwas gelernt. Der Banker will jedenfalls nicht mehr so weitermachen wie bisher. Aber die Häuser in der Straße spielen weiterhin ihre gebieterische Rolle – und nach und nach ziehen neue Nachbarn ein.

Kapital
John Lanchester, Dorothee Merkel (Übersetz.)
Klett-Kotta 2012, 682 S., 24,95 €

Florian Schmid schrieb zuletzt im Freitag über Occupy weltweit

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