Im vergangenen Jahr wurde man auf sie aufmerksam. Lisa Kränzler legte ein Romandebut vor, das die packende Geschichte einer 17-jährigen süddeutschen Austauschschülerin erzählt. Der Teenager erlebt in Kanada zwar eine Art persönliche Befreiung, aber auch ein tiefgehendes Trauma, das jahrelang nachwirkt. Export A wurde von der Kritik einhellig gelobt und Lisa Kränzler zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb nach Klagenfurt eingeladen, wo sie den 3sat-Preis gewann. Der Text, den sie bei dem Wettbewerb vorgelesen hat, war Teil eines Romans, der jetzt unter dem Titel Nachhinein erscheint. Und es bestätigt sich: Die 1983 im schwäbischen Ravensburg geborene und in Freiburg lebende Autorin ist derzeit eine der interessantesten jungen literarischen Stimmen hierzulande. So sah das auch die Jury des Leipziger Buchpreises und nominierte das Werk mit vier anderen für den diesjährigen Leipziger Buchpreis, der zur Messe im März vergeben wird.
Über der Geschichte dieses Textes und seiner Präsentation beim Bachmann-Wettbewerb liegt ein tragischer Schatten. Wie schon Lisa Kränzlers Debüt wurden auch Teile von Nachhinein von Jens Jenrich lektoriert; für Jenrich, Jahrgang 69, ein beruflicher Späteinsteiger, war die Einladung zum Wettbewerb ebenso ein Meilenstein wie für die junge Autorin. In der Nacht, bevor die Debutantin vorlesen sollte, starb er an einem Herzinfarkt. Trotz des schrecklichen Verlustes las Kränzler anderntags ihren Text.
Abnabelungsprozesse
Lisa Kränzlers literarische Arbeiten sind im Grunde fiktive Biografien junger Frauen und Mädchen. Thematisiert werden Lebensabschnitte, in denen Menschen in Grenzsituationen geraten, traumatisiert werden, aber auch die Momente, in denen sie beginnen, sich zu wehren. Sexueller Missbrauch und Vergewaltigung spielen in beiden sprachlich aufwendig erzählten und minutiös durchkomponierten Romanen eine zentrale Rolle. Nachhinein erzählt nun die Geschichte zweier Mädchen, die in einer süddeutschen Kleinstadt aufwachsen. Das Mittelschichtkind wohnt auf der einen Seite der Straße, das Arbeiterkind auf der anderen. Während die beiden als Kinder beste Freundinnen sind, entfernen sie sich im Lauf der Zeit voneinander. Diesen Prozess fängt Lisa Kränzler in seiner Dramaturgie detailliert ein. Dabei entsteht ein sozialkritisches Porträt der beiden Mädchen in ihrem süddeutschen Kleinstadtkosmos, aber auch ein Coming-of-age-Roman, an dessen Ende die Vierzehnjährigen nicht mehr miteinander befreundet sind.
Auch wenn es zahlreiche Perspektivenwechsel gibt, wird die Geschichte hauptsächlich aus der Sicht des Kindes erzählt. Lisa Kränzler nennt das musikalisch talentierte Mädchen aus der Mittelschichtfamilie LottaLuisaLuzia, ihre beste Freundin, die Schlosserstochter von Gegenüber heißt JasminCelineJustine. Während LottaLuisaLuzia bei dem Wettbewerb „Jugend musiziert“ mitmacht und sich schließlich das erste Mal verliebt, hat ihre beste Freundin mit einem alkoholabhängigen, prügelnden Vater und sexuellem Missbrauch in der Familie zu tun. Dabei vermeidet es der Roman, ein sozialkritisches Urteil über diese Welt zu fällen. Das Erwachsenwerden von LottaLuisaLuzia hat auch vor allem mit der Fähigkeit zu tun, sich von ihrer vormals besten Freundin abzugrenzen. Und diesen Abnabelungsprozess setzt Lisa Kränzler zum Teil recht drastisch in Szene.
Wie ein Soundtrack
Wie schon Export A ist auch Nachhinein geprägt von der manchmal sehr gedrechselten, aber dann stellenweise wiederum schlicht genialen Prosa der Autorin. Als JasminCelineJustine von ihrem Vater missbraucht wird, formuliert das Mädchen seine Verzweiflung mit den Worten „Die Vögel würden verrückt werden“. Der Vater: „Das unbeseelte, stumpf-schwere Ding auf ihrem Brustkorb fordert Gehorsam. Immer wieder Gehorsam.“ So verstörend diese Passagen sind, so leicht wird das Urlaubsglück von LottaLuisaLuzia geschildert mit einem Meer als einer „wunderbaren Bucht, diesem halbmondförmigen Becken voll kühler, lindernder, blau-grün-türkis glänzender Salztinktur.“
Wer sich als Leser auf diese Sprache einlässt, wird gebannt von der emotionalen Tiefenschärfe, mit der die seelischen und mentalen Abgründe ihrer Figuren ausgelotet werden. Lisa Kränzler, die in Karlsruhe Kunst studiert hat und auch als bildende Künstlerin arbeitet, hat sich selbst einmal als „Maler, der schreibt“ bezeichnet. Ab Ende Februar sind Arbeiten von ihr in einer Gruppenausstellung in Liechtenstein zu sehen. Ihre Texte haben durchaus etwas von Gemälden, aber man könnte auch sagen, dass sie etwas von Liedern haben, denn die intensive Prosa erzeugt beim Lesen auch einen Klang. Er verdichtet sich zu einem Sound, der stellenweise kompliziert ist wie Jazz, dann wieder schnell und harmonisch dahingleitet wie elektronische Musik, die dann aber regelmäßig in dumpfe, schmerzliche und hämmernde Beats übergeht. Musik spielt auch thematisch in Lisa Kränzlers Prosa eine wichtige Rolle.
Bereits in Export A fungiert die Musik, die die junge Protagonistin immer wieder hört, wie ein Soundtrack zum Buch, dessen Titel am Ende in einer Trackliste angegeben sind. In Nachhinein ist das Klavierspiel für die junge LottaLuisaLuzia schließlich die Möglichkeit, sich zu emanzipieren, und auch ihre erste Liebe trifft sie durch das Musizieren. Nachdem Lisa Kränzler in ihrem Debüt über einen Teenager geschrieben hat und jetzt zeitlich in das Kindesalter zurückgegangen ist, darf man gespannt sein, ob es die junge Freiburgerin in ihrem nächsten literarischen Werk ganz woanders hintreibt. Zuzutrauen ist ihr alles.
Nachhinein Lisa Kränzler Verbrecher-Verlag 2013, 300 S., 22 € Florian Schmid hat im Freitag zuletzt über Silvia Federici geschrieben
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