Diesen Herbst gibt es Dietmar Dath satt, nachdem fast zwei Jahre lang kein neues Buch des Vielschreibers erschienen ist, der neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit im Feuilleton der FAZ arbeitet. Fast jedenfalls, denn 2018 brachte Reclam immerhin eine 100-seitige Schrift Daths zum 200. Geburtstag von Karl Marx heraus. Mit dem 700-Seiten-Roman Neptunation schreibt der 1970 Geborene nun sein mehrbändiges Opus fort, das mit Der Schnitt durch die Sonne 2017 begann. Bei Matthes & Seitz erscheint sein 1.000-seitiges Kompendium über Science-Fiction mit Niegeschichte, das eine Genealogie, theoriegeschichtliche Einordnung und Poetik des Genres bietet. Bei Suhrkamp kommen im Sammelband 2029 außerdem mehrere Autoren, unter anderem Dath, zur näheren Zukunft zu Wort.
In Neptunation geht die Geschichte der Menschen weiter, die in Der Schnitt durch die Sonne zum Zentrum unseres Planetensystems gereist sind. Das Buch kann aber auch unabhängig vom ersten Teil gelesen werden und berichtet in einem großen Erzählbogen von der extraterrestrischen Besiedelung des Sonnensystems, die hier schon in den 1980er Jahren beginnt.
Damals, so die Fiktion, startete kurz vor Ende des Kalten Krieges eine sowjetisch-ostdeutsche Weltraummission in Richtung Neptun. Die wurde jahrzehntelang geheim gehalten, bis in der nahen Zukunft ein deutsch-chinesisches Raumschiff startet, um der seit über 30 Jahren durch das Sonnensystem fliegenden Mission zu folgen.
Ein Teil der sozialistischen Raumfahrer hat im Asteroidengürtel inzwischen eine Hochtechnologiezivilisation erschaffen. Der andere Teil befindet sich irgendwo am äußeren Rand des Sonnensystems. Aber nach einem weiteren politischen Putsch im Asteroidengürtel, in dem der linke Spaltungspilz kein Ende zu finden scheint, werden mörderische Drohnen Richtung Erde geschickt, weswegen der Start eines Raumschiffs von der Erde aus nötig wird. An Bord befinden sich neben dem chinesischen Kapitän, einem süddeutschen Linguisten, einem Bundeswehrsoldaten und einer geheimnisvollen Frau, die im Lauf der Jahrzehnte nicht zu altern scheint, einige Personen, die schon in Daths letztem Roman durch das Sonnensystem reisten. Es wird wieder viel diskutiert, über Mathematik gesprochen, über kulturelle Inhalte und politische Haltungen gestritten und mit viel Spannung die Begegnung mit den ins All ausgewanderten Menschen erwartet.
Die haben sich inzwischen mittels modernster Technologien verändert, Sinnesorgane und Gliedmaßen multipliziert, unzählige Fabriken auf Asteroiden errichtet, zwischen denen sie hin- und herfliegen, eine ganze Spezies hybrider Menschenwesen gezüchtet und Kontakt zu einer Art von feinstofflichen Lebewesen aufgenommen, die ihnen dienstbar sind. „Was da lebt, ist kein ‚Wesen‘ im menschlichen Sinn, eher ein Empfinden in Segmenten von Kausalketten unendlicher Feinheit, ein energetischer Austausch durch Venen- und Kapillarsysteme, die sich auf den Kämmen der Gravitationswellen einander fernstliegender astronomischer Objekte treffen.“
Gleichzeitig entbrennt in diesem stilistisch anspruchsvollen und nicht immer ganz leicht zu lesenden Roman besagter knallharter Kampf verfeindeter politischer Fraktionen, in denen ein Alter Ego des Militaristen Trotzki ebenso vorkommt (und sogar mit einem Pickelstoß in den Kopf ermordet wird) wie ein realpolitisch agierender Lenin. Den politisch trotz angewandter Monodromietechnologie recht bieder wirkenden Sozialisten im Asteroidengürtel stehen die schon in die Außenzonen des Sonnensystems vorgedrungenen abgespaltenen Raumfahrer gegenüber, die in ihrem Schiff, der Eolomea, benannt nach einem DDR-Science-Fiction-Filmklassiker von 1972, zum Neptun gelangt sind.
In Neptunation finden sich haufenweise Anspielungen und Zitate des Science-Fiction-Genres, von Iwan Jefremow über Robert Heinlein bis hin zu Filmen. Wie gut sich Dath mit dem Genre auskennt und welche Möglichkeiten darin stecken, führt er in seiner Niegeschichte aus.
Aber Dietmar Dath weiß nicht nur viel über Science-Fiction, er kann sie auch auf hohem literarischen Niveau erzählen. Hochkomplexe Sachverhalte aus Physik, Mathematik und Raumfahrttechnologie werden fiktionalisiert und in fantastische und spannende Handlungen gepackt, wenngleich Neptunation im Lauf auch durchaus seine Längen hat.
Doch so abgefahren, detailliert und kenntnisreich diese Wissenschaftsfiktion ist, Dath schreibt explizit politische Literatur, die weniger Debattenbeitrag als kämpferische Intervention ist. So viel seine Figuren auch über Mathematik streiten und sich im raumschiffeigenen Filmclub über Ungenauigkeiten in Science-Fiction-Geschichten aufregen, kämpfen sie in erster Linie doch für eine andere Welt. Und das tun sie eben auch auf dem Neptun, wo riesige fliegende Oktopusse durch die Gasatmosphäre driften, bis ein gnadenloser imperialistischer Feind auftaucht, von dessen Existenz dort draußen keiner etwas geahnt hatte.
Info
Neptunation Dietmar Dath Fischer 2019, 688 S., 16,99 €
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