Krieg der Körper

Literatur Hunderttausende sterben, der Staat ist zersetzt: Timo Dorsch zeigt Mexikos Drogenproblem
Ausgabe 17/2021
Tatort in Mexiko: Die letzte Souveränitätsmacht in der modernen Welt hat derjenige, der entscheidet, wer lebt oder stirbt
Tatort in Mexiko: Die letzte Souveränitätsmacht in der modernen Welt hat derjenige, der entscheidet, wer lebt oder stirbt

Foto: Luis Gutierrez/Getty Images

Bei der Debatte um Antisemitismusvorwürfe gegen Achille Mbembe wurde viel über die Person des kamerunischen Historikers gesprochen, sein Konzept der Nekropolitik – es handelt sich dabei um eine Weiterentwicklung von Foucaults Gouvernementalitätsbegriff, um Herrschaftsmechanismen in postkolonialen Gesellschaften zu analysieren – wurde kaum thematisiert. Wie sich dieser Theorie-Ansatz zur Analyse im Fall Mexiko anwenden lässt, zeigt der Politikwissenschaftler und Humangeograf Timo Dorsch. Er fragt, wie es möglich ist, dass eine parlamentarische Demokratie, Mitglied der G20 und der OECD, in weiten Teilen des Landes keine staatliche Kontrolle ausüben kann. 300.000 Menschen sind in Mexiko seit Beginn des „Kriegs gegen die Drogen“ 2006 ermordet worden. Im Syrienkrieg sind in den vergangenen zehn Jahren 400.000 Menschen ums Leben gekommen.

Timo Dorsch rückt der mörderischen Wirklichkeit analytisch zu Leibe und greift auf das Konzept der Nekropolitik zurück. Die wird als „letzte Souveränitätsmacht“ verstanden, die entscheidet, wer leben darf und wer sterben muss. Dabei erlebt die mörderische Gewalt in Mexiko, wo regelmäßig Leichen verstümmelt werden, eine beängstigende Inszenierung. Die Körper, so Dorsch, werden zum „Territorium des Krieges“, zu „Produktionsmitteln“, um Herrschaft abzusichern und Waren- und Geldflüsse zu garantieren. Das Morden ist wesentlicher Teil des Akkumulationsregimes, das ohne diese Gewalt nicht funktionieren würde, was auch mit historischen Kontinuitäten aus der Kolonialzeit zu tun hat, in der die gewalttätige Ausbeutung von Arbeitskraft fester Bestandteil der Wertschöpfung war.

In Mexiko macht Dorsch eine Überschneidung staatlicher und informeller krimineller Gewalt aus. Diese Hybris, Schnittmenge zwischen Staat und illegalen Strukturen, dient vor allem dazu, illegal erworbene Gelder in eine legale Wirtschaft und in globale Wertschöpfungsketten einzuspeisen. Nicht selten sind Einkaufszentren in Westeuropa und Wohnanlagen in den USA Investitionsobjekte für Kartelle. Dabei geht es aber nicht nur um ein paar korrupte Beamte, die helfen, Geld zu waschen, sondern um eine strukturelle Überschneidung von Staat und Drogenkartellen.

500.000 Menschen arbeiten laut mexikanischem Verteidigungsministerium für die Kartelle. Dass Teile des Staates darin verwickelt sind, ist kein Geheimnis. Gerade das zu Beginn des Drogenkrieges eingesetzte Militär übernahm selbst das Geschäft der Kartelle und bildete eigene Strukturen aus. Seit einigen Jahren mischen sich die Kartelle auch immer mehr in legale Wirtschaftsbereiche in Mexiko ein, vor allem ins Bergbau- und Avocado-Geschäft, um mit ebenso gewalttätigen Mitteln Märkte aufzuteilen und Arbeitnehmer einzuschüchtern. Dorsch analysiert in seinem spannend zu lesenden Buch auch die historischen Entwicklungen Mexikos hinsichtlich Drogenanbau im 20. Jahrhundert, der Auswirkungen neoliberaler Deregulierung der Finanz-märkte und des politischen Machtvakuums, das durch die Dominanz der jahrzehntelang regierenden PRI und deren jähen Absturz zu Beginn der nuller Jahre entstanden ist. Nun kämpfen seit zwei Jahrzehnten Eliten aus Staat und organisierter Kriminalität um Erhalt und Ausbau ihrer Einflusssphären.

Der Staat schaut weg

Von der Analyse der Makroebene geht Timo Dorsch zur Mikroebene über und schreibt vor allem über Michoacán, einen der Hotspots mexikanischer Drogenkriminalität. Mitunter liest sich das wie ein Krimi. In diesem Krimi gibt es längst Gegenwehr auf kommunaler Ebene, wo Selbstverteidigungsgruppen und kleine unabhängige Milizen auch mal ihre Dörfer mit Sandsackbarrieren absichern und ganz praktisch gegen Kartelle kämpfen. Die Staatlichkeit schaut weg, und wenn sie sich einmischt, entwaffnet sie meist die wehrhaften Kleinbauern.

Wir in Deutschland kennen diesen Konflikt aus Serien wie Narcos, die Hintergründe der mörderischen Realität werden in Dorschs Buch hervorragend aufgezeigt.

Info

Nekropolitik. Neoliberalismus, Staat und organisiertes Verbrechen in Mexiko Timo Dorsch Mandelbaum 2020, 286 S., 19 €

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden