Als Autor politischer Kriminalliteratur ist der in Lille lebende Jérôme Leroy auch außerhalb Frankreichs erfolgreich. Wobei die Romane des 58-jährigen bekennenden Kommunisten, der nebenbei journalistisch tätig ist – unter anderem schreibt er als „Linksaußen“ für das rechte Debattenblatt Causeur –, mehr als nur Krimis sind.
Das unterstreicht noch einmal besonders eindrücklich sein neuer Roman Die letzten Tage der Raubtiere. In dieser außergewöhnlichen Fiktion rückt Leroy, wie üblich in seinen Büchern, der politischen Wirklichkeit Frankreichs mit Hingabe und Inspiration zu Leibe. Der Roman ist so rasant und turbulent, dass man dem Leser fast raten möchte, sich vor der Lektüre besser anzuschnalle
üre besser anzuschnallen. Im französischen Original erschien das Buch, quasi als literarische Intervention, vergangenes Jahr im Endspurt vor der Präsidentschaftswahl, die Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen für sich entscheiden konnte. Im Zentrum der Geschichte, die im selben Frankreich angesiedelt ist wie Jérôme Leroys Romane Der Block (2011) und Der Schutzengel (2014), steht das literarische Alter Ego von Emmanuel Macron – sie ist allerdings eine Frau, und ihr Name ist Nathalie Séchard.Im Roman beschließt die enorm unter Druck stehende Präsidentin ganz überraschend, nicht mehr für die Präsidentschaftswahl 2022 zu kandidieren, sie will mehr Zeit mit ihrem deutlich jüngeren Mann verbringen. Ausgerechnet jetzt. Wo das Land im Chaos versinkt. Gerade flaut zwar die Gelbwesten-Revolte ab, aber die Corona-Pandemie inklusive Debatten um Impfpflicht und harten Lockdown eskaliert erst richtig, und nach monatelanger Trockenheit, Rekordhitze und Wassermangel kommt es zu wochenlangen Waldbränden, während in den Vororten die Aufstände zunehmen.Machthunger der ElitenSéchards Entscheidung löst ein regelrechtes Erdbeben in ihrem politischen Umfeld aus. Denn ebenso in ihrem Kabinett wie in ihrer Partei, der Nouvelle Société, einem neoliberalen Schmelztiegel, der alle politischen Lager bedienen soll und in dem sich vor allem ehemalige Sozialdemokraten, Linksliberale, aber auch diverse rechte Law-and-Order-Politiker tummeln, beginnt ein knallharter Machtkampf um ihre Nachfolge. Wer wird der neue Präsidentschaftskandidat und wohin steuert die Regierungspartei? Schließlich gilt es, die drohende Machtübernahme durch den Bloc Patriotique und seine Spitzenkandidatin Agnès Dorgelles (das literarische Alter Ego von Marine Le Pen) zu verhindern.In den Ring steigen schließlich der linksliberale, grüne Guillaume Manerville, Staatsminister für soziale und solidarische Ökologie, als Wunschkandidat der Präsidentin und der Innenminister Patrick Beauséant, ein rechter Nationalist, der versiert auf der sicherheitspolitischen Klaviatur spielt und Front macht gegen die Gewalt in den Vorstädten und die Straßenblockaden der radikalen ökologischen Linken.Jérôme Leroy entwirft mit einer erzählerischen Leichtigkeit ganze Politiker-Biografien, die vom Abstieg und Erodieren der französischen Sozialdemokratie erzählen, aber auch von Karrieren im Militär- und Sicherheitsbereich. Dabei geht es ebenso zurück in die französische Kolonialgeschichte wie auch zu den militanten Arbeiterkämpfen im nordfranzösischen Kohlerevier der frühen 1980er-Jahre. Aber auch linksradikale Öko-Aktivisten, zu denen die Tochter des grünen Ministers gehört, mitsamt Straßenblockaden und Besetzungsaktionen spielen hier eine Rolle, es geht um linke Kommunen auf dem Land, um elitäre Universitätsbildung, aber auch um geheimdienstliche Verschwörungen, brutale Folter, nationalistische Netzwerke und den Machthunger politischer Eliten.Der „Tiefe Staat“Die letzten Tage der Raubtiere ist ein Roman, der sich an aktuellen Themen abarbeitet, aber ohne dass das bemüht wirkt. Zum einen inszeniert Leroy sehr eindrücklich die Corona-Pandemie ebenso als politisches Ereignis wie auch als ganz banalen Alltag, wenn ständig Masken auf- und abgesetzt werden oder der Lockdown mitsamt Ausgangssperren die Bewegungsfreiheit der Figuren einschränkt. Neben den Aufständen in den Banlieues, die wie ein Hintergrundrauschen die Romanhandlung begleiten, sind es vor allem die flächendeckenden Waldbrände und die Probleme der Behörden, die Wasserversorgung aufrechtzuerhalten, die den Politikern immer mehr Kopfzerbrechen bereiten, während sie sich wie die titelgebenden Raubtiere gegenseitig belauern. Jérôme Leroy schraubt gekonnt an der dystopischen Eskalationsschraube in diesem fiktiven Frankreich, in dem alles ein bisschen schlimmer ist als in der Realität. Schließlich kommt es dann auch noch zu verschiedenen Anschlägen, unter anderem zu einem Massaker in einem Impfzentrum.Oder ist hier am Ende gar eine Verschwörung im Gange? Räumt der rechte Innenminister seine Gegner aus dem Weg und eskaliert genau an den Stellen, die seiner politischen Agenda entgegenkommen? Gibt es ein Netzwerk, das versucht, die Ereignisse in ihrem Sinn zu beeinflussen?Geheimdienstliche Aktivitäten und die Vorstellung eines „Tiefen Staates“ sind immer wiederkehrende Themen in Leroys Büchern, wobei er keineswegs mit platten Verschwörungsgeschichten aufwartet, sondern vielmehr auf Gefahren durch die autoritäre politische Rechte aufmerksam macht und sein tiefes Misstrauen gegenüber dem politischen Parteienbetrieb zum Ausdruck bringt.Politischer Antifaschismus ist für den Autor eine ganz wichtige Triebfeder seines schriftstellerischen Selbstverständnisses. Mit Anfang 20 ging er als junger Kommunist erstmals gegen den Front National auf die Straße und wurde dabei maßgeblich politisiert. Seine Romane versteht Leroy nach eigenen Angaben als „zeitgemäße Form der Geschichtsschreibung“ mit klarer linker Orientierung. Vor allem bieten seine spannenden und von Mal zu Mal komplexer werdenden Romane eine großartige Lektüre. Das gilt erst recht für Die letzten Tage der Raubtiere.Placeholder infobox-1