Hierzulande galt der 1959 geborene US-amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann lange als Geheimtipp. Nur wenige seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt. Sein Bekanntheitsgrad dürfte sich aber gerade grundlegend ändern. Schuld daran ist sein im Original schon 2005 veröffentlichter, mit dem National Book Award ausgezeichneter Roman Europe Central. Formal besteht er aus 37 unterschiedlichen Biografien realer und erfundener Zeitzeugen. Erzählt werden Künstler wie Käthe Kollwitz und Dimitri Schostakowitsch, aber auch Militärs wie der deutsche General Paulus, der Stalingrad belagerte, und General Andrej Wasslow, der auf Seiten der Sowjets kämpfte und nach seiner Gefangenschaft bei Leningrad mit den Nazis kollaborierte. Die Geschichte
Geschichte von Kurt Gerstein, der für die Waffen-SS als Hygiene-Fachmann das Morden in Konzentrationslagern organisierte, wird in das komplexe Erzählwerk ebenso eingeflochten wie eine fiktive Kalte-Kriegs-Geschichte um ein Mitglied der Organisation Gehlen oder der sowjetische Dokumentar-Filmemacher Roman Karmen, der unter anderem die Eroberung Berlins durch die Rote Armee filmte. Stalin und Hitler als immer wieder auftauchende ultimative Machtpole sind natürlich auch mit von der Partie.ProjektionsflächenHandwerklich ist der Roman zweifelsfrei eine Meisterleistung. Vollmann verknüpft die einzelnen Biografien zu einem komplexen Geflecht von Geschichten. Dabei fungiert der Zweite Weltkrieg als zentrales Geschehen, um das sich alle 37 Geschichten gruppieren.Besonders die Belagerungen Leningrads und Stalingrads stehen im Fokus der Erzählung. Eigentliche Hauptperson ist der Komponist Dimitri Schostakowitsch und dessen Musik, vor allem die 7. Sinfonie und sein Opus 110 – zwei Kompositionen, die für Vollmann die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs ästhetisch und künstlerisch auf einzigartige und geniale Weise zum Klingen bringen.Europe Central will nicht weniger als mehrere Jahrzehnte Weltgeschichte in Form eines Romanepos abbilden. Vollmanns Prosa, die sich immer wieder wie ein gigantischer Kommentar aus zusammengelesenen Quellen und Sekundärliteratur liest, hat aber auch Längen aufzuweisen und verliert sich oft in geradezu lyrisch-wagnerianischen Passagen. Da ist „Stahl in Bewegung“, „Stukas“ kommen in „gerader Linie, die polnischen Straßen vor sich ausgebreitet wie Blutflecken“, steigen dann wieder auf und „verschmähen nun diese schiefen, verrußten Trümmer, wie Feindesleut sie verdienen“.Immer wieder dient das Siegfried-Lied als kulturelle Projektionsfläche, Hagen taucht als personifizierter Ur-Nazi regelmäßig am Rand von Schlachten auf. Und Schostakowitsch als die Person, durch die sozusagen alle historischen Ereignisse hindurchgehen und der prismatisch eine Opfer- und Täterrolle gleichzeitig einnimmt, ist irgendwann nur noch „Katalysator einer biochemischen Reaktion, die Schmerz in Musik umwandelt“.Vollmanns Roman ist mit Sicherheit keine Geschichte von unten und soll das auch nicht sein. Vielmehr ist es eine dokumentarische und fiktionalisierte Aufarbeitung prominenter Schicksale im Lauf des Zweiten Weltkriegs inklusive der Vor- und Nachgeschichte. Es ist eine „Geschichte der Großen Männern“. Zwar spielt auch Käthe Kollwitz eine Nebenrolle in diesem Opus, aber hauptsächlich als Soldatenmutter, wozu sie sich ja selbst auch gerne stilisierte. Sonst gibt es noch diverse attraktive Ehefrauen als Beiwerk.StaffageUnd dann ist da noch Hilde Benjamin, die als stalinistische Richterin in der DDR den Beinamen „Rote Guillotine“ trug. Sie wird vor allem als hässlich charakterisiert, während die Männer allesamt, trotz ihrer Kriegsverbrechen und des ständigen Mordens, meist ganz gut aussehende Burschen sind.Vollmann reproduziert – wenn auch vielleicht in einem gewissen Maß unfreiwillig – eine heroische Kriegs-Ästhetik, die den Leser in die bornierte Denke förmlich hineinzieht. Eine kritische Distanz, die definitiv nötig wäre, bleibt auf der Strecke oder geht in den schicksalsschwangeren Gesängen des Opus schlicht unter. Gleichzeitig liegt Vollmanns Roman ein fatalistisches Geschichtsbild zugrunde. Seine Figuren scheinen nie auch nur den Hauch einer Handlungsfähigkeit entwickeln zu können.Das deutsche Reich und die Sowjetunion dienen Vollmann als totalitäre Systeme, denen die historischen Akteure gegenüberstehen, ihnen dabei ebenso dienen wie sie von ihnen kontrolliert und unterdrückt werden. „Die moralische Gleichsetzung von Stalinismus und Hitlertum ist nichts Neues. (…) Dieser Gedanke dient hier nur als Ausgangspunkt“, so Vollmann im Nachwort. Diese lapidar hingeworfene These zu einer politischen und geschichtswissenschaftlichen Debatte um einen äußerst umstrittenen Totalitarismusbegriff zeigt die Schwäche von Vollmanns Verfahrensweise. Geschichte, ebenso wie die Reflexion darüber, ist hier in erster Linie Rohmaterial, das in einen literarischen Prozess hineingepresst wird.Egal ob es Schostakowitsch ist, dessen Beobachtungen im belagerten Leningrad und Erlebnisse mit dem repressiven Stalinismus sich in die Musik einschreiben, oder ob ein namenloser Deutscher nach dem Krieg revisionistische Großmachtsfantasien hegt: Niemand in diesem Buch scheint wirklich verantwortlich zu sein oder sich wehren zu können. Vielmehr schimmert immer wieder ein historisches Über-Ich durch, das alle Geschicke steuert. Geschichte wird zum totalitären System, die Akteure sind letztlich nicht mehr als Staffage.Dabei wird der Kriegsroman als Opus Magnum in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur immer wieder bemüht. Thomas Pynchons Epos Enden der Parabel wartet mit einem abstrusen Personal und slapstickartigen Einlagen auf, um den Zusammenhang von Krieg, Todessehnsucht und sexuellen Obsessionen literarisch in Szene zu setzen. Und Denis Johnson verarbeitet in dem 800-seitigen Vietnamkriegsroman Ein gerader Rauch die allgegenwärtige Paranoia US-amerikanischen Sicherheitsdenkens nach 9/11. Trotz umfangreicher Recherchen, stellenweise sprachlich-stilistischer Höchstleistungen und gigantischer Dramaturgiebögen bleibt Vollmanns ausuferndes Epos hinter diesen tollen Romanen zurück. Der ganz große Wurf ist Europe Central nicht.