Marsianer am Rhein

Nicht im Kino Der Mars und deutsche Kriegspropaganda: Was für die Science-Fiction-Komödie „Iron Sky“ funktionierte, war auch 100 Jahre früher gut für einen Film – bloß ohne Humor
Ausgabe 37/2014
Marsianer am Rhein

Illustration: Otto

Der Mars erfreut sich seit langer Zeit großer Beliebtheit als Projektionsfläche menschlicher Sehnsüchte in Buch und Film. Und doch mutet es schon ein wenig skurril an, dass die deutsche Militärpolitik vor 100 Jahren den Planeten als Bezugspunkt für ihre Zwecke gebrauchte. Die Entdeckung Deutschlands von Georg Jacoby und Richard Otto Frankfurter, der erste deutsche Kriegspropagandafilm, existiert heute leider nur noch als 15-minütiges Fragment, die Urfassung war zwei Stunden lang. Der Zusammenschnitt landete Anfang der siebziger Jahre als Geschenk eines Sammlers im Amsterdamer Filmmuseum. Nun hat die Berliner Kulturwissenschaftlerin Britta Lange die Geschichte des verschollenen Films rekonstruiert und ein anregendes Buch darüber geschrieben: Die Entdeckung Deutschlands. Science-Fiction als Propaganda.

Demnach diente der Film im Kohlrübenwinter 1916 dazu, französische und englische Presseberichte zu dementieren, nach denen in Deutschland Hunger herrsche und die Kriegsproduktion stillstehe. Drei Marsianer, zwei Männer und eine Frau, reisen auf die Erde, um die Berichte zu überprüfen, und lernen ein – wie könnte es im Propagandafilm anders sein! – blühendes Deutschland kennen. Sie genießen Bier und Klöße in München, fahren nach Berlin, wo sie die Rüstungsproduktion begutachten, und nach Kiel, wo ein deutsches U-Boot zu bestaunen ist. Schließlich reisen sie den Rhein hinunter; dort wird das Deutsche Eck besucht und mit dem bereisten Flusslauf nebenher die gegen den Erzfeind Frankreich zu verteidigende Grenzlinie markiert.

Der Film funktioniert in seiner erzählerischen Grundstruktur ähnlich wie Montesquieus Persische Briefe. Nur dass hier statt zweier Perser drei Aliens als Fremde durch ein Land reisen, um, scheinbar naiv und unvoreingenommen, ein anderes Bild zu zeichnen als die französischen und englischen Zeitungen. Wohlgenährte Deutsche, brummende Fabriken und volle Lagerhäuser sollen ein siegessicheres Land zeigen. Dafür bietet Die Entdeckung Deutschlands für die damalige Zeit völlig neue Bilder der Großindustrie und verknüpft solche dokumentarischen Elemente mit Reisegeschichte und Romanze – die Marsianerin erlebt ein Tête-à-Tête mit einem deutschen Feldsoldaten, ehe sie am Ende einen Marsianer heiratet.

Stilistisch orientiert sich der Film an einer expressionistischen Ästhetik, etwa in den Szenen auf dem Mars, wenn Aliens in antiken Tempelanlagen durch ein riesiges Fernrohr die Erde beobachten. Die Marsbewohner sind mit magischen Fähigkeiten ausgestattet. So können die hochtechnologisierten Weltraumfahrer ihre Größe verändern, schweben frei im Raum und gehen durch Wände. Neben einigen Bildern aus dem Film bietet Langes Buch nicht nur eine spannend zu lesende filmgeschichtliche und historische Einordnung, in der ebenso auf die damalige Tagespresse wie auf die Entstehung der modernen Science-Fiction eingegangen wird. Als Leser glaubt man den verschollenen Film selbst sehen zu können. Das ist die große Leistung des knappen Büchleins.

Weil der frühe, mitunter experimentelle Film Ausdruck und Teil der künstlerischen Avantgarde ist, wirbt Lange dafür, Die Entdeckung Deutschlands aus einer kritischen Perspektive zu betrachten, ohne den Film als billige Propaganda abzutun. Schließlich mischen sich darin verschiedene Genres; außerdem bietet das Werk fast zehn Jahre vor Fritz Langs Metropolis einen Blick auf die ersten Gehversuche des Science-Fiction-Films.

Die Entdeckung Deutschlands. Science-Fiction als Propaganda Britta Lange Verbrecher-Verlag, Reihe Filit, 122 S., 14 €

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