Das viktorianische Zeitalter als Schauplatz fantastischer Geschichten im Serienformat liegt voll im Trend. Neben dem antirassistischen Elfen-Opus Carnival Row auf Amazon Prime, dessen zweite Staffel Fans aktuell herbeisehnen, wartet Netflix Ende April mit Shadow and Bone auf, das im Russland des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist und im Fachjargon als Rus-Punk bezeichnet wird. Mit The Nevers hat nun auch HBO(hierzulande zu sehen auf Sky) eine aufwendig produzierte Steam-Punk-Serie im Programm, die ein wildes Genre-Crossover zwischen Science-Fiction, Fantasy und einem Schlückchen Horror bietet.
Im Zentrum des Sechsteilers stehen die resolute und trinkfeste Amalia True (Laura Donelly), die mit ihrer an seltsamen Apparaturen herumbastelnden Wissenschaftlerinnenfreundin Penance Adair (Ann Skelly) eine Art Waisenhaus für Frauen mit übernatürlichen Fähigkeiten (wie Gegenstände in Glas verwandeln, Feuerbälle werfen oder die Zukunft vorhersagen) betreibt. Davon gibt es in diesem fiktiven viktorianischen London jede Menge, nachdem anno 1897 eine Anomalie mitsamt Lichtregen über der Metropole schwebte.
The Nevers erzählt vor allem vom Kampf aufgeklärter, taffer Frauen gegen bornierte alte, herrschsüchtige Männer, von denen es im viktorianischen London – egal ob Politiker oder Straßengangmitglieder – mehr als genug gibt. Die „Berührten“, wie die Frauen und auch wenigen Männer mit übernatürlichen Fähigkeiten genannt werden, reicht man in bürgerlichen Kreisen ebenso zum Amüsement herum, wie man sie auch allgemein fürchtet. Wobei einige dieser Frauen auch entführt werden, um mittels brutaler medizinischer Behandlung ihre besondere Energie zu verwerten.
In diesem Spannungsfeld steht das Waisenhaus, das stark an Charles Xaviers Mutanten-Institut aus den X-Men-Filmen erinnert. Überhaupt zitiert The Nevers auf geradezu unverschämte Weise jede Menge fantastischer Filme. Wenn etwa Penance Adair mit einer Messingflasche auf dem Rücken geschnallt anti-magischen Kunststoffschaum verschießt, erscheint das wie eine fast schon allzu platte Persiflage auf Ghostbusters. Ein bisschen atmet die Serie auch den Horror von Penny Dreadful, und ein weiblicher Bösewicht namens Maladie, der stark an die Joker-Freundin Harley Quinn erinnert, ist ebenfalls mit von der Partie.
Dieses opulente und stellenweise geradezu operettenhafte Werk, in dem es ebenso um Arbeiterstreiks, Sex-Orgien im Londoner Untergrund, politische Ränkespiele, organisiertes Verbrechen und jede Menge feministischer Power geht, stammt ursprünglich aus der Feder von Joss Whedon, dem Erfinder der bei kapitalismuskritischen und linksradikalen Akademikern so beliebten Serie Buffy (1997 – 2003). Aber mittlerweile ist Whedon in Verruf geraten, nachdem über sein von Schauspielern als „toxisch“ beschriebenes autoritäres Verhalten an Filmsets in den vergangenen 20 Jahren heftig diskutiert wurde.
Der 1964 geborene Regisseur und Autor hat sich nun mehr oder weniger freiwillig aus fast allen Projekten zurückgezogen. Auch wenn HBO ab Folge zwei andere Autoren und Regisseure verpflichtet hat, ist The Nevers eindeutig ein Produkt der Marke Joss Whedon geblieben, in dem sich ganz ähnlich wie in Buffy Frauen mit Superkräften zusammentun, um gegen die bestehende Ordnung zu Felde zu ziehen. Wobei Whedon nicht zwangsläufig für zeitgeistigen Popfeminismus steht, wie die von ihm inszenierten und vor bellizistischem Geballer und altbackenen sexistischen Witzchen überbordenden Avengers-Filme (2012 und 2015) auch zeigen.
The Nevers lebt, wie im Steam-Punk-Genre üblich, vom Gegensatz einer vor Konservativismus geradezu strotzenden bürgerlichen Prüderie und dem verspielten Futurismus eigenwilliger Maschinen wie einem dreirädrigen Auto, mit dem Amalia und Penance durch London vorbei an Pferdekutschen flitzen. Wobei die Frauen auch politisch für eine neue Welt kämpfen, und das mit Hingabe. Wer also sehen will, wie eine gouvernantenhaft gekleidete Amalia True männlichen Widersachern einen rechten Haken in die Eier donnert und nichts unversucht lässt, um dem Netzwerk aus Männern das Handwerk zu legen, die sich gegen die „berührten“ Frauen organisieren, sollte sich dieses mitunter fast etwas zu krawallig geratene Fantastik-Spektakelnicht entgehen lassen. The Nevers lässt sich natürlich auch als Allegorie auf die als Identitätspolitik gelabelten politischen Kämpfe unserer Zeit lesen.
Wobei die Serie stellenweise sogar so etwas wie eine Poesie des Widerstands in Szene setzt, wenn mit einem gerade von Penance erfundenen Verstärker ein geradezu magisch klingendes Lied von einem Park aus in ganz London übertragen wird, um so noch mehr „Berührte“ zusammenzubringen und den weiteren Kampf zu organisieren.
Info
The Nevers Joss Whedon USA 2021; 6 Folgen wöchentlich auf Sky
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