Kürzlich geriet das berühmte linksradikale italienische Autorenkollektiv Wu Ming in den USA in die Schlagzeilen. Es wurden Vermutungen laut, sie könnten als Teil einer linken Guerilla-Aktion hinter den derzeit in den USA kursierenden Verschwörungstheorien einer anonymen Person namens Qanon stehen. Dessen Anhänger tauchen mit dem Buchstaben „Q“ auf T-Shirts und Plakaten immer öfter vor allem bei Auftritten Donald Trumps auf. Laut Qanon droht in den USA ein Staatsstreich durch einen Kinderhändlerpornoring an dem ehemalige demokratische Präsidenten, Wall-Street-Größen und Hollywoodstars beteiligt sind, den das Militär durch die Einsetzung Trumps als Präsidenten verhindert hat.
Wu Ming bestreiten, etwas mit dem Medienstreich zu tun zu haben. Der Verdacht rührt wohl daher, da Wu Mings erster Roman Q (damals noch unter dem Pseudonym Luther Blissett) Teil einer linken Kommunikationsguerilla-Offensive im Italien der 1990er Jahre war, die mit ähnlichen Mitteln Fake News und deren Wirkung thematisierte und politisch einsetzte. Der 1999 veröffentlichte Roman Q war „ein wilder Ritt durch die europäische Geschichte, Reformationswestern, Revolutionskrimi und Spionagethriller in einem“ (der Freitag Krimispezial Ausgabe 16/2016), der Feind liest mit: Die rechtsradikalen Verschwörungstheoretiker haben das Epos ja womöglich gelesen und sich den Titel dann angeeignet.
„Zerstört alle Dörfer!“
Bei der Lektüre von Wu Mings neuem Roman würden sich den nationalistischen Rechten definitiv die Nackenhaare sträuben. Denn in Manituana erzählen die fünf Postautonomen aus Bologna auf ungewohnte Weise vom amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und lassen die sonst in Geschichtsbüchern so gut beleumdeten Freiheitskämpfer mit ihren rassistischen Kriegszügen gegen die indigene Bevölkerung ziemlich schlecht aussehen.
Wie gewohnt bürstet das Autorenkollektiv Wu Ming in Manituana Geschichte gegen den Strich. Der Fokus des auf historischen Tatsachen beruhenden Romans liegt auf dem Kampf der Irokesen im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, um ihr Überleben gegen die expandierenden Siedler zu sichern. „Ihr dürft den Stimmen, die Friedensangebote machen wollen, bis zur vollständigen Zerstörung aller Dörfer kein Gehör schenken. Unsere zukünftige Sicherheit hängt ab von ihrer Unfähigkeit, uns zu schädigen, und vom Terror, den die Entschiedenheit unserer Strafexpedition in ihre Gehirne pflanzt.“ So lautete der auch im Roman vorkommende Befehl George Washingtons an Major John Sullivan, der 1779 die militärische Offensive gegen die Irokesen anführte und die „Six Nations“ mit mörderischer Gewalt aus ihrem angestammten Territorium zwischen New York und Pennsylvania endgültig Richtung Norden vertrieb. Die Irokesen waren militärische Verbündete der Briten, da sie wie viele indigene Stämme den Expansionsdrang der nach Unabhängigkeit strebenden Siedler fürchteten. In Manituana wird der Unabhängigkeitskrieg auch als Konflikt um freie Warenzirkulation und eine weitergehende Besiedlung erzählt. Die indigenen Stämme stehen diesem Fortschritt im Weg.
Ins Zentrum ihrer Erzählung stellen Wu Ming die historische Figur des Kriegshäuptlings Joseph Brant, dessen Schwester den britischen Indianerkommissar heiratete. Die Irokesen in diesem Epos wohnen nicht in Zelten, sondern in Häusern, treiben Handel und haben enge Verbindungen zu den königstreuen Europäern. Von denen leben einige wiederum in der Wildnis und ziehen mit indianischer Kriegsbemalung in die Schlacht, um die Ansprüche des englischen Königs zu verteidigen. Indigene und Europäer, vor allem Iren und Schotten, leben friedlich zusammen. Vorherrschende Sprache ist das Mohawk-Dutch, das einzige Idiom, das alle verstehen, auch die feindlichen Siedler und Aufständischen.
Die historische Figur Joseph Brants, auf den George Washington schließlich ein Kopfgeld aussetzte, war auch lange als Übersetzer tätig und übertrug einen Katechismus und Psalme in die Mohawk-Sprache der Irokesen. Er reiste sogar nach London, wo er den englischen König George III. traf und Mitglied einer Freimaurer-Loge wurde. Auch diese Episode erzählt der Roman, der wie andere Bücher von Wu Ming ein faszinierendes sozialhistorisches Panorama auffächert und dabei nicht nur die Wälder und Siedlungsgebiete Nordamerikas und Kanadas, sondern auch das Leben im London des ausgehenden 18. Jahrhunderts schildert.
Voltaire und Tomahawk
Wu Mings akribisch recherchierter Historienwälzer liest sich wie ein Anti-Lederstrumpf. Den edlen Wilden, wie ihn James Fenimore Cooper in Der letzte Mohikaner entwarf, gibt es hier nicht. Die Indianer bei Wu Ming stehen der Moderne offen gegenüber. So auch der beste Freund von Joseph Brant, eigentlich ein Franzose, der als Kind gefangen genommen und adoptiert wurde, im Wald lebt, Voltaire liest und zum Tomahawk schwingenden Kriegshelden der Irokesen avanciert. Das indigen und irisch geprägte „Irokirland“ Wu Mings ist in einem radikalen Sinn jener kulturelle Schmelztiegel, als der die USA gemeinhin verstanden werden, wenngleich die historischen Helden des Unabhängigkeitskrieges genau diese kulturelle Diversität im ausgehenden 18. Jahrhundert mit militärischer Gewalt zerstörten.
Das kratzt natürlich gehörig am Narrativ der amerikanischen Unabhängigkeit, die in ein paar Jahren ihren 250. Jahrestag feiert. Die Irokesen, so die landläufige Meinung, hätten in ihrer Parteinahme für das britische Empire eben auf das falsche Pferd gesetzt. Entsprechend herrschen in den amerikanischen Geschichtsbüchern die Erzählungen von der Barbarei und Grausamkeit der Irokesen vor, etwa beim Cherry Valleys Massaker von 1778. In Manituana wird dieses Ereignis nicht ausgespart und sogar sehr verstörend in Szene gesetzt, aber es steht in einem Kontext mit der komplexen politischen, kulturellen und militärischen Gemengelage jener Jahre, zu der eben auch die Vertreibung der Irokesen gehört. Deren eigentlich kaum bekannte Geschichte setzen Wu Ming als ebenso informatives wie spannendes Epos auf über 500 Seiten einfach großartig in Szene.
Info
Manituana Wu Ming Klaus-Peter Arnold (Übers.), Assoziation A, 512 S., 19.80 €
Cut, Land und paste
Die Bilder dieser Ausgabe stammen von Künstlerinnenkollektiv Live Wild.
Ein Mix aus Collagen, GIFs, Video und Fotografie ist das, ein wildes Manifest: Das Kollektiv Live Wild will das Erbe der Dadaisten und der Fluxus-Bewegung antreten. Sieben junge Künstlerinnen bilden das Kollektiv, die Gründerin Camille Lévêque sieht Künstlerinnen zu sehr auf feministische Aspekte reduziert. Als hätte Kunst von Frauen keine andere Dimension. Das Kollektiv will mehr, „we are DADA-mad“. Mit dabei: Lila Khosrovian, Anna Hahoutoff, Marguerite Horay und Charlotte Fos, die Armenierin Lucie Khahoutian, die Ukrainerin Ina Lounguine. Sie leben und arbeiten verstreut in Europa, Russland, den USA und Kanada. Sie treffen sich jeden Tag online und auf Instagram. Mehr zur Philosophie auf: www.thelivewildcollective.com
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