Als vor sechs Jahren mitten in den Krisenprotesten zwischen Platzbesetzungen in New York und Straßenschlachten in Athen das anarchistische Manifest Der kommende Aufstand auf Deutsch erschien, wurde es hierzulande hochgejubelt als „wichtigstes Theoriebuch unserer Zeit“ (FAZ) und die SZ entdeckte darin gar die „Ästhetik des Widerstandes für das neue Jahrtausend“. Das Manifest wurde zum linksradikalen Theorie-Bestseller.
Damals im unangreifbaren neoliberalen Burgfrieden der Merkel’schen Wohlfühlrepublik konnte sich keiner vorstellen, dass daraus auch in dem Land, das in den 1980er Jahren im Zuge von Hafenstraße, Wackersdorf und Kreuzberger 1. Mai die militantesten Auseinandersetzungen sozialer Bewegungen in Europa erlebte, doch einmal wieder Ernst werden könnte. Spätestens seit dem Hamburger Aufstand ist das anders. Nach den Protesten rund um den G20-Gipfel und den Riots im Schanzenviertel überschlagen sich hiesige Politiker und Journalisten mit der hilflosen Dämonisierung „linker Gewalttäter“.
Solange der militante Aufstand weit weg, in Athen, Oakland, São Paulo oder Istanbul stattfand, konnten sogar bürgerliche Gemüter in der militanzfetischistischen Ästhetik wohlwollend einen Kern kritischen Ausagierens junger Menschen gegen eine immer unbeliebter werdende politische Klasse und ihre dröge Verwaltung einer rücksichtslosen turbokapitalistischen Ökonomie erkennen. Jetzt ist das anders. Deswegen dürfte es auch spannend werden, mit wie spitzen Fingern das hiesige Feuilleton an das neue Buch des „Unsichtbaren Komitees“ mit dem vielversprechenden Titel Jetzt herangeht.
Igitt, ein Gesellschaftskadaver
Das aus Frankreich stammende Unsichtbare Komitee hatte den Kommenden Aufstand bereits 2007 unter dem Eindruck der damals knapp zwei Jahre alten Banlieue-Krawalle und der mitunter brachialen landesweiten Proteste von Studenten und Jugendlichen gegen das Erstanstellungsgesetz (2006) veröffentlicht. Es dauerte vier Jahre, bis das Buch in einer deutschen Übersetzung vorlag. Die zyklisch wiederkehrenden Unruhen und Aufstände der folgenden Jahre von Athen über Istanbul bis Ferguson ließen das kleine Büchlein wie das visionäre Drehbuch der sich viral weiterentwickelnden sozialen Proteste erscheinen. Es hatte gleichsam diagnostische Kraft. Deshalb wohl auch der positive Widerhall in der hiesigen Presse.
Nun hat das ominöse Unsichtbare Komitee, das sich bereits vor zwei Jahren in einer Publikation recht kritisch mit den Krisenprotesten auseinandergesetzt hatte, ein weiteres Buch mit dem programmatischen Titel Jetzt nachgelegt. Die Hamburger Riots fanden in das gut hundertseitige Pamphlet keinen Eingang mehr, es geht vor allem um eine anarchistische Lese der Proteste in Frankreich 2016 rund um die großen Demonstrationen und Blockaden gegen die von Emmanuel Macron mittlerweile durchgesetzte Arbeitsrechtsreform. Interessant dürfte das Buch auch deshalb sein, weil in Hamburg rund um den G20-Gipfel zahlreiche französischsprachige Graffitis auftauchten und wie sonst bei den Straßenschlachten in Paris, Lyon oder Rennes schwarz vermummte Gruppen ihr „Ahu! Ahu!“ skandierend Steine und Flaschen Richtung Polizei schleuderten.
„Was im Frühling 2016 in Frankreich stattfand, war keine soziale Bewegung, sondern ein politischer Konflikt, genauso wie 1968.“ Die riotaffinen Theorie-Nerds aus Frankreich sehen sich selbst stets im Kontext historisch bedeutsamer Ereignisse, darunter macht es das Unsichtbare Komitee einfach nicht. „Es könnte gut sein, dass eine Generation unregierbar geworden ist“, heißt es reißerisch in dem beileibe nicht über die ganze Länge des Textes flott geschriebenen Manifest. Wobei ihre revolutionäre Prosa über weite Strecken immer noch genau jenen Sound entwickelt, für den die namentlich nicht bekannten französischen Linksradikalen berühmt wurden. Entsprechend evoziert sie bei der Lektüre jene Bilder militanten kollektiven Ungehorsams, die im letzten Jahr immer wieder aus Frankreich zu sehen waren.
Bilder, die sowohl in den Nachrichtensendungen der Leitmedien als auch im Internet auf Seiten wie denen des Medienkollektivs „Taranis-News“zu sehen waren, die die Pariser Riots, die schon im März mit militanten Schülerdemos begannen und Mitte Juni ihren Höhepunkt erlebten, mit martialischem Material dokumentierten. Die vermummten Anarchisten und Autonomen, die im Lauf der Wochen immer wieder die Demospitze auch großer gewerkschaftlicher Aufmärsche kaperten, waren für das Unsichtbare Komitee das zentrale Ereignis in dieser Periode nicht abreißender Proteste. „So konnte man miterleben, wie sich von einer Demo zur nächsten an der Spitze des Demozugs alles versammelte, was aus dem Gesellschaftskadaver desertieren will, um nicht seinen kleinen Tod mitzusterben.“
Proteste wie Honig
Bei der gewerkschaftlichen Großdemo am 14. Juni, als in Paris zum ersten Mal seit 1968 wieder Wasserwerfer gegen Demonstranten eingesetzt wurden, reihten sich schließlich „ganze Gewerkschaftssektionen bis hin zu den Hafenarbeitern von Le Havre in die auf 10.000 Menschen angeschwollene, unkontrollierte Demospitze ein“. Es kam zu stundenlangen Straßenschlachten.
Auch wenn Jetzt vor allem Honig aus den Protestereignissen des langen französischen Frühlings 2016 zieht und dessen Binnenlogik verhaftet bleibt, dürfte es für einige Leser darüber hinausweisend Bedeutung haben. Das liegt nicht nur daran, dass der viel beschworene Aufstand, der in den vergangenen 20 Jahren fester Bestandteil des politischen und subkulturellen Ereignishorizonts vor allem westlicher Industrieländer wurde, nun auch hierzulande in den Hamburger Riots stattgefunden hat. Sondern auch daran, dass der Text pointiert politische Stimmungslagen benennt wie „das ganze erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit“ oder die „gewaltige Pädagogik des Abwartens“.
Dagegen stellt das Unsichtbare Komitee ganz im Stil des Situationismus das radikale, titelgebende Jetzt als Chiffre für die „Entschlossenheit zu desertieren, aus der Reihe zu treten, sich zu organisieren“. Ansonsten bleibt das Manifest aber auch sehr vage. Denn jedweder Art der weitergehenden Organisierung des Protestes steht das Unsichtbare Komitee mit einer unversöhnlich ablehnenden Haltung gegenüber. Ihrer Kritik am Institut der Vollversammlung als Kernstück ihrer Vorbehalte gegen die typische Politikpraxis linker Bewegungen und Gruppen bleiben sie treu. Entsprechend fällt ihre Bewertung von Nuit Debout aus, die sie zwar insofern positiv sehen, als sie eine Art Sprungbrett für die Proteste 2016 bot, aber bald zu „einer öffentlichen Darbietung von Machtlosigkeit“ mutierte.
Zum Thema Gewalt hat das Komitee natürlich auch etwas zu sagen. Aber wer in diesem philosophisch argumentierenden und mitunter gediegen intellektuellen Text explizite Aufrufe zu Gewalt sucht, wird keine finden. Vielmehr stellen die Autoren fast schon überrascht fest, dass sogar Gewerkschafter vergangenen Frühling auf Demonstrationen spontan das Bersten von Scheiben und die Zerstörung öffentlicher Einrichtungen beklatschten. Die Militanz ist für das Unsichtbare Komitee aber kein Selbstzweck. „Die Polizei ist Hindernis, nicht Gegner“, heißt es in ihrem Text, der die „Unregierbarkeit“ beharrlich einfordert und diese vor allem in der Militanz als Geste festmacht. Wobei die Militanz der heute in Schwarzen Blöcken auftretenden Vermummten ein Stück weit auch immer als popkulturelle Attitüde zu verstehen ist. Nur wenige langen gegen die martialisch hochgerüstete Polizei wirklich hin.
Dementsprechend wirkt der Aufruf zum Ungehorsam jenseits politischer Parolen wie der Versuch, die schwergängige Theorie mit dem Pop zu verschweißen. „Es ist nicht Unwissenheit, wenn die ‚Jungen‘ in ihren politischen Slogans eher die Punchlines der Rapper aufgreifen als die Maximen von Philosophen.“ Genau an dieser Bruchlinie zwischen Philosophie und Pop steht Jetzt und bietet einen Einblick ins Selbstverständnis jenes Schwarzen Blocks, der spätestens seit Hamburg auch hierzulande wieder Thema ist.
Info
Jetzt Unsichtbares Komitee Birgit Althaler (Übers.), Edition Nautilus 2017, 128 S., 14 €
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