Romane für Weltbürger

Globalisierung Zwischen Jazzmusik und Misosuppe – Anmerkungen zum Erfolg von Murakami Harukis neuem Werk „1Q84“

Der neue Murakami kann durchaus als Opus Magnum durchgehen. Über 1000 Seiten dick, vereinigt 1Q84 sämtliche in seinen früheren Romanen vorkommenden Motive: von den erotischen Frauenohren und den rezeptartigen Kochszenen über Jazzmusik bis hin zur Sinnsuche von 30+-Singles – inklusive phantastischer Elemente und historischer Exkurse. Sogar das Thema seines Sachbuchbestsellers Untergrundkrieg wird zu einem zentralen Handlungsstrang. Denn unter anderem geht es in diesem Roman um eine totalitäre Sekte, die zwar keinen Anschlag plant oder durchführt, aber im postideologischen Universum Murakami Harukis als Referenzpunkt für Fundamentalismus und neue Religiosität steht. Das alles wird in der üblichen minimalistischen Sprache und mit einem genialen Gespür für Plot und Dramaturgie umgesetzt. Ganz harmlos geht es los und umso heftiger wird es dann.

Genau dieser perfekt inszenierte erzählerische Sog schafft die eigenwillige Intimität, die der Leser für gewöhnlich bei der Lektüre eines Murakami-Romans erlebt. Man taucht ebenso in die Geschichte ein wie die Handlung des Buches in einen selbst eindringt. Im Vergleich zu seinen frühen Büchern wie Tanz mit dem Schafsmann und Hard boiled Wonderland ist 1Q84 aber fast etwas zu glatt geraten. Allerdings liegt genau darin auch wiederum sein Reiz. Die extreme Künstlichkeit von Murakamis literarischer Welt ermöglicht die breite, internationale Rezeption und macht ihn erst zum Poeten einer Mythologie, in dessen Zentrum das metropolitane Individuum zwischen Jazzmusik und Misosuppe steht.

Edles Design

Die Romane von Haruki Murakami gefallen eben fast jedem. Dementsprechend gut sind Murakamis Verkaufszahlen, die jetzt von 1Q84 noch einmal deutlich getoppt werden. Das ist nicht nur in Deutschland so, in Japan verkauften sich das Buch (in zwei Teilen) bereits 2,5 Millionen Mal. Hierzulande war die Stadtauflage von 65.000 Exemplaren innerhalb von zwei Wochen ausverkauft. Keine Frage, das ist rekordverdächtig – man muss ganz unwillkürlich an Harry Potter denken. Murakamis neuester Coup erinnert dann auch in mehrfacher Hinsicht an den Hype rund um den britischen Zauberlehrling. Auf Deutsch sind jetzt in einem Band die ersten zwei Teile von 1Q84 erschienen, die in Japan noch einzeln herauskamen, und das macht auch inhaltlich Sinn. Der dritte Teil, in Murakamis Heimat bereits erhältlich, soll hier 2011 erscheinen. Ob es einen vierten Teil geben wird, ist noch offen, aber wahrscheinlich. Gerüchte wirken verkaufsfördernd: Ganz ähnlich wie bei Harry Potter herrschte auch bei 1Q84 Informationssperre. Nichts vom Plot wurde verraten. Der Dumont-Verlag hatte auf seiner Website sogar einen Countdown bis zur Veröffentlichung eingerichtet und lockte die letzten zwei Wochen vor dem Erscheinungstermin täglich mit einer einseitigen Leseprobe.

So setzt sich eine globalisierte Literatur durch, die von Tokio über Madrid bis Moskau gleichermaßen funktioniert. Zwar wurde diese Literatur maßgeblich von Harry Potter befeuert, aber ihre Ursprünge liegen in der US-Amerikanischen Pop- und Subkultur der neunziger Jahre. Ob verspielt wie T.C. Boyle oder vergleichsweise anspruchsvoll wie Don DeLillo: es entstand eine Literatur, die mit ihren scheinbar überall gleichermaßen gültigen Geschichten zur ernsthaften Konkurrenz für die jeweiligen Nationalliteraturen wurde. Heute sind es die Stimmen der bürgerlichen Nach-Postmoderne, die politisch korrektes Konsumverhalten oder ein dekonstruiertes Familienleben motivisch abarbeiten, wie jüngst Jonathan Safran Foer und Jonathan Franzen.

Haptisches Erlebnis

Neben der massiven Werbung stechen diese Bücher vor allem durch ihr Design hervor. Der neue Murakami glänzt – in der Startauflage – im silbernen Cover und trägt den Autorennamen wie ein Logo im Buchschnitt. Die Verlage setzen mittlerweile auf dieses edle Design. Gerne vermitteln auch geprägte Schriftzüge ein zusätzliches haptisches Erlebnis. Oder ein Cover wird im aufwändigen Vielfarbdruck hergestellt (2666 von Roberto Bolaño). Finanziell rechnen sich diese Luxus-Editionen für die Verlage nur bei Bestsellern, oder wenn es ein Titel rasch bis zur dritten oder vierten Auflage schafft. Zu kompliziert darf es also inhaltlich nicht sein; David Foster Wallace’ 1.200 Seiten dicker, epochemachender Roman Unendlicher Spaß vom letzten Herbst dürfte für Kiepenheuer und Witsch dauerhaft ein Minusgeschäft bleiben – nicht zuletzt wegen der hohen Übersetzungskosten. Sagen wir es so: Solange diese literarisch bedeutsamen, aber markttechnisch uninteressanten Bücher weiter gedruckt werden, ist gegen die Murakamis dieser Welt nichts einzuwenden.


1Q84Haruki Murakami Dumont Buchverlag 2010, 1021 S., 32,00

Florian Schmid hat im Freitag u.a. über The Coming Insurrection geschrieben

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